Im Jahre 2011 erlebten wir im südfranzösischen Agde unser erstes Café Philo. Im Maison des Savoirs treffen sich dort ca. 60 Menschen aus allen Bildungsschichten zu einer Diskussion über ein philosophisches Thema unter der Leitung von Jean-Paul Colin (www.cafe-philo.eu).
Gerade im April dieses Jahres hat das Café Philo Agde sein 15jähriges Jubiläum mit einem Vortrag des bekannten französischen Philosophen Comte-Spomville gefeiert. Zu dem Ereignis in der Stadthalle war auch der Bürgermeister erschienen. Wir werden im Juni wieder an einer Sitzung teilnehmen und uns bei dem Thema "Harmonie" von unserem Chemnitzer Thema "Hass" erholen können.
Café_Philo Chemnitz
Wir dachten 'warum nicht auch in Chemnitz' und schlugen es dem Freien Institut für Bildung e. V. (FIB) bei dessen Gründungsversammlung vor. Der Vorschlag wurde angenommen und es kam zu einer Kooperation mit der VHS Chemnitz und der Friedrich-Ebert-Stiftung, die inzwischen aus finanziellen Gründen ausgestiegen ist. Das Café_Philo läuft im Frühjahr 2019 im 17. Semester mit jeweils 4 Veranstaltungen zu einem Grundthema. Für jede Sitzung gibt es unterschiedliche Moderatoren und Veranstaltungsorte. Wir moderieren normalerweise eine Veranstaltung pro Semester. Nach einem kurzen Input wird sofort in die Diskussion eingestiegen. Diese ist ergebnisoffen und dauert selten weniger als zweieinhalb Stunden. Wir kennen ähnliche Veranstaltungen außer in Frankreich auch in Dresden, Leipzig und Norddeutschland. Keine ist so diskussionsintensiv und ergebnisoffen.
Come, see, listen, think and - only if you like -talk!
Wintersemester 2020/21
Thema: Kapitalismus
Kapitalismus im Alltag
4. Sitzung des Café Philo Chemnitz im Wintersemester 2020/21 am 16.02.2021
Videokonferenz
Moderation: Jan Friedrich, Meike Breuer; Hosting: Jan Friedrich
Gedächtnisprotokoll: Thea Johannsson
23 Anwesende
Es begann mit einer Selbstbeobachtung der Moderatorin: Sie läuft regelmäßig und hat seit einiger Zeit auch eine Tracking App. Damit bekommt sie nicht nur Rückmeldungen zu ihrer Laufleistung (m/sec oder Schrittzahl), sondern auch Informationen über die Leistung anderer, die diese Strecke gelaufen sind. Die Rückmeldung führe zu dem Wunsch bzw. verstärke ihn, sich noch weiter zu verbessern. Durch die Öffentlichkeit – andere können auch ihr Ergebnis erfahren und verfolgen – wird dieser Wunsch noch weiter befeuert. Die Menschen erhalten somit ständig einen Anreiz, sich immer noch weiter zu verbessern. Das sei wahrscheinlich nicht nur beim Sport so, wo es ja schon immer Vergleiche und den Wunsch gab, Sieger zu werden, sondern auch bei anderen Hobbies, die man auf facebook und ähnlichen Plattformen teilt. Man wird vergleichen und erhält schnelle Rückmeldungen, und vielfach kann das zu dem Wunsch führen, sich deshalb zu verbessern, um mehr Follower zu gewinnen.
Ist das wirklich eine Erscheinungsform des Kapitalismus? Es gab den Einwand, dass gerade beim Sport es doch schon seit der Antike Wettbewerb und Ehrungen für die Besten gegeben hat. Und es gibt Menschen, denen es in der Tat Lust bereitet, sich mit anderen zu messen und ihre Fortschritte schwarz auf weiß belegt zu sehen. Neu ist allerdings die moderne Technik, die diese Messung und den Wettbewerb zu einem Dauerzustand machen kann, und die Tatsache, dass die Wettbewerbs- und Selbstdarstellungsmentalität auch auf andere Hobbys und Lebensbereiche übergreift. Optimierung wird nicht mehr nur oder vorwiegend im Berufsleben angestrebt, sondern den Menschen als eine Grundhaltung nahegelegt. Nun ist Selbstverbesserung durchaus ein mögliches ethisches Ziel, das auch schon in der antiken Philosophie angesprochen wurde. Ein Teilnehmer nannte die Stoa ein Selbstveredelungsprogramm, ein anderer Teilnehmer verwies auf den Bibelvers: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Doch da ist das Ziel eine allseits entwickelte Persönlichkeit, die sich in allen Lebensbereichen entfalten kann und selbst bestimmt, was ihr am wichtigsten ist. Apps machen den Fortschritt messbar, was aber nur geht, wenn man Anzahl der angestrebten Ziele klein hält. Aber ist es wünschenswert, alle Kraft auf die Optimierung einer Facette des Lebens und der eigenen Fähigkeiten zu legen, wenn dafür die anderen arg zurückbleiben? Eine Teilnehmerin wies darauf hin, dass es durchaus auch Aspekte gibt, die sich der Quantifizierung entziehen. Sie brachte das Beispiel des Gärtnerns. Unter Gärtnern ist der Wettbewerb um den größten Kürbis beliebt, doch die Größe des Kürbisses sagt nichts aus über die Schönheit oder den ökologischen Wert des Gartens, nicht einmal über den Geschmack des Kürbisses. Aber er kann gewogen und somit objektiv gewertet werden. Sie schilderte einen Spaziergang mit einer Freundin. Am Ende blickte diese auf die App und meinte: „Mir fehlen noch 2000 Schritt“. Soll das die Quintessenz eines Spaziergangs sein? Wie viel nimmt man noch wahr von der Landschaft, von Begegnungen mit Menschen und Tieren, wenn der Blick vorwiegend auf abgearbeitete Zahlen gerichtet wird?
ES kam auch wieder die Frage auf, ob man vorliegende Phänomene mit der „Natur“ des Menschen begründen könne und solle. Wir erleben Menschen ja nie als Naturwesen sondern immer so, wie sie von der sie umgebenden Welt und Gesellschaft geprägt wurden. Eine Teilnehmerin führte am Beispiel von Zirkustieren aus, dass auch gesellschaftlicher Einfluss nicht etwas schaffen könne, was gegen die natürlichen Neigungen und Möglichkeiten der Menschen gehe. Auch Zirkustiere könnten nur zu Bewegungen veranlasst werden, die ihnen schon von Natur aus eigen sind. Allerdings würden sie durch die Dressur veranlasst, bestimmte Bewegungen auf Kommando und damit wohl auch häufiger zu machen als es in freier Wildbahn der Fall wäre. Der Moderator griff dieses Beispiel auf. Wenn die Gesellschaft quasi als Dompteur fungiere, hätte sie dann doch einen immensen Einfluss darauf, welche „Bewegungen“ wir tatsächlich machen. Das gilt dann auch für Bewegungen in unserem Gehirn.
Es wurde darauf hingewiesen, dass unsere Zeit der Entwicklung von Muße entgegenstehe. In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts sei es nach einer Umfrage als beliebte Freizeitbeschäftigung genannt worden, aus dem Fenster zu schauen. Das könne man sich als Freizeitbeschäftigung heute kaum noch vorstellen. Freizeiteinrichtungen werben häufig damit, dass „keine Langeweile“ auf-kommen“ könne. Aber ist ungefüllte, unverplante Zeit nicht eine Voraussetzung für Kreativität? Kurz kam auch die Frage auf, ob Muße und Langeweile überhaupt das Gleiche seien. Doch während Muße früher als Wert galt, verschwindet die Vokabel heute weitgehend aus unserem Sprachgebrauch.
Unser Verhältnis zur Zeit habe sich geändert, meinte ein Teilnehmer, indem wir sie in immer kleinere Sequenzen zerhacken. Symptomatisch dafür sei der „Taylorismus“, die Analyse von Bewegungsab-läufen zum Zweck, diese zu optimieren. Ein anderer Teilnehmer meinte, der Taylorismus sei durchaus sinnvoll gewesen, wo es darum ging, Maschinen zu entwickeln, sei aber menschenfeindlich, wenn der Mensch dazu angehalten werde, bestimmte Dinge auf ganz bestimmte, vorgeschriebene Weise zu erledigen. Doch das sei in modernen Betrieben nicht mehr der Fall. Da würden den Arbeitnehmern in der Art der Durchführung größere Freiheiten gelassen. Das erhöht einerseits die Spielräume des Einzelnen, aber nur solange er mit diesen Freiheiten sich in das System einpasst und dieses optimiert. Die letzten Ziele der Prozesse würden immer noch vorgegeben. Diese könne der Einzelmensch nicht mitbestimmen, ja er käme durch den Mangel an Muße kaum dazu, darüber Vorstellungen zu entwickeln. Selbst wer sich ein wenig dieser Mühle entziehen kann und neue Ideen und Verhaltens-weisen ausprobiert, entkommt dem Kapitalismus nicht, denn dieser hat ein Auge auf jede neue Entwicklung und macht sie sich dienstbar, auf jeden Fall als neuen Markt, der neue Bedürfnisse hervorbringt, die man bedienen und an denen man damit verdienen kann, aber auch als Ideen für Neugestaltungen und Verbilligungen der Produktion.
Neuere Theorieansätze zum Kapitalismus
3. Sitzung des Café Philo Chemnitz im Wintersemester 2020/21 am 19.1.2021
Videokonferenz mit einem Vortrag von Sebastian Schuller
Moderation: Wolfram Ette, Hosting: Jan Friedrich
Gedächtnisprotokoll: Thea Johannsson
21 Anwesende
Wir begannen unüblicherweise mit einem Referat von Sebastian Schuller, der seine Doktorarbeit über neuereTheorieansätze zum Kapitalismus geschrieben hat. Er ging insbesondere ein auf die Untersuchungen von Tinder & Co, auf das Buch „Capitalist Realism – Is there no alternative?“ von Mark Fischer und auf „Immaterial Labour“ von Mauricio Lazzarato. Die gemeinsame These ist, dass sich die kapitalistische Produktionsweise und sein Verwertungsdenken immer mehr auch in Gebieten breitmacht, die früher mehr der Privatsphäre zugeordnet wurden, dass es die Aufteilung in Arbeitszeit und Freizeit so nicht mehr gibt, sondern auch unser Freizeitverhalten kapitalistisch verwertet wird. Als Beispiel wurden die Dating-Portale angeführt. Ein Teilnehmer wandte ein, dass die Suche nach Partnern doch schon immer einen gewissen Aufwand an Zeit und auch Geld (z. B. Besuch einer Bar oder einer Tanzveranstaltung) gekostet habe. Somit habe sich vielleicht nur das Mittel geändert, in dem man die Begegnung suche. Andere meinten, dass sich durch die Fülle der Auswahl auch das Verhalten ändere: man versuche ohne tatsächlichen Kontakt schon viel über das Gegenüber herauszufinden und die Suche, das Betrachten der Profile könne so spannend werden, dass darüber die tatsächliche Kontaktaufnahme sogar in den Hintergrund tritt. Außerdem mache man sich selbst quasi zur Ware, wenn man sich bemühe, sich selbst möglichst interessant und vorteilhaft zu präsentieren. Außerdem lasse die Größe der Auswahl die Ansprüche steigen. Früher wäre man froh gewesen, jemanden zu finden, der etwa zu 50 Prozent die eigenen Wunschvorstellungen erfüllt. Heute wäre selbst bei 80 Prozent die Unruhe da, hinter dem nächsten Klick könne sich ein noch idealer passender Partner finden. Gerade das sei aber gut für das Portal, denn wer tatsächlich einen Partner findet, mit dem er länger zusammen bleibt, geht ja als Kunde verloren.
Durch Datensammlung könne man auch nicht erwarten, dass irgendwann ein neues Bedürfnis am Kapitalismus vorbei auftrete, das sich die Menschen dann in kreativer Eigenleistung erfüllen. Was immer an Ideen oder neuen Bedürfnissen aufkommt, der Kapitalismus ist immer schon da. Als Beispiel wurde der Corona-Impfstoff angeführt. Schon nach dem ersten Bekanntwerden des neuen Virus fingen Konzerne an, an der Entwicklung eines Impfstoffes zu arbeiten.
Auch der Protest der 68ger Generation, die Forderung nach besserer Arbeit-Freizeit-Balance, nach mehr Individualität bei der Auswahl der Produkte und Kreativität in der Lebensgestaltung sei inzwischen durch den Kapitalismus integriert worden. Das provozierte eine Teilnehmerin zu der Frage, warum man dann den Kapitalismus überhaupt überwinden wolle. Wenn er tatsächlich in der Lage sei, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, die jetzigen wie zukünftige, sei doch dagegen nichts einzuwenden. Die Bedenken liegen darin, dass es sich nur um eine Scheinerfüllung handeln könne, die ähnlich wie die Dating-Portale nur selten an das eigentliche Ziel führten. Wenn die eigentlichen Bedürfnisse nicht erfüllt sind, führt das zu einer latenten Unzufriedenheit, deren ursächlicher Mangel aber nicht erkannt und beseitigt wird, weil die Scheinbefriedigung ihn verschleiert.
Wenn Kapitalismus, wie in früheren Sitzungen herausgearbeitet, auf ständiges Wachstum angewiesen ist, befeuert Unzufriedenheit den Konsum und dienst diesem Wachstum. Aber dieses Wachstum führt dann nicht mehr dazu, die Menschen besser mit dem auszustatten, was sie brauchen oder was ihr Leben leichter oder glücklicher macht.
Damit wären wir bei Lazzarati. Immaterielle Arbeit ist bei ihm unproduktive Arbeit in dem Sinne, dass kein greifbares, vorzeigbares Produkt hergestellt wird, die aber gleichwohl wichtig bis unverzichtbar ist, z.B. Krankenversorgung, Kindererziehung. Eine Teilnehmerin meinte, dass deshalb die sogenannten Care-Berufe doch von ihrer Natur her der kapitalistischen Verwertbarkeit ziemlich entzogen seien. Es sind ja tatsächlich die Arbeiten, die bis in die späten 50ger Jahre hinein vorwiegend von Hausfrauen erledigt wurden und damit nicht auf dem Markt gehandelt wurden. Aber gerade jetzt sei die Umstellung zu beobachten, die diese Tätigkeiten immer mehr auslagere und dem Gebot der „Wirtschaftlichkeit“ unterwerfe. Diese Wirtschaftlichkeitsforderung führe aber dazu, dass der mit-menschliche Aspekt auf der Strecke bleibe, eine Situation, die weder für die Pflegepersonen noch für die Gepflegten angenehm sei.
Gleichzeitig sah der Referent eine dialektische Komponente in der Entwicklung. Große Konzerne wie Walmart und Amazon würden schon minutiös planen. Damit sei ein klassischer Einwand gegen die Planwirtschaft widerlegt, nämlich dass die Wirtschaft zu komplex für zentrale Entscheidungen sei und viele dezentrale Schaltstellen an den Orten des Geschehens über den Markt die tatsächlichen Interessen und Möglichkeiten besser in Übereinstimmung bringen. Die moderne Technik mache einen schnellen Überblick über die tatsächliche Situation möglich. Es komme nur darauf an, sie nicht im Sinne des größten Profits sondern im Sinn tatsächlicher Bedürfnisbefriedigung einzusetzen. Dagegen erhob ein Teilnehmer den Einwand, dass diese Technik vor allem in sehr großen Firmen zum Einsatz komme, die schon fast Monopolcharakter hätten. Ob es nicht vielmehr ein Versagen der Politik sei, wenn solche Giganten überhaupt entstehen könnten. Die Frage, welchen Gestaltungsspielraum die Politik überhaupt gegenüber dem kapitalistischen System habe, tauchte in der Diskussion fortwährend wieder auf. Ist sie ein Teil des Systems oder doch noch ein eigenständiger Bereich? Eigentlich muss man ein gewisses Maß an Eigenständigkeit annehmen, wenn man überhaupt auf revolutionäre oder evolutionäre Veränderungen hofft, denn auch eine Revolution ist ein politischer Akt, allerdings einer, der sich nicht an etablierte Spielregeln hält. Es gibt auch Theorien, die davon ausgehen, dass sich der Kapitalismus letztendlich „tot siegt“. Doch wenn er an den ökologischen Möglichkeiten scheitert, an der Erschöpfung aller natürlichen Ressourcen, könnte es auch ein Scheitern der Spezies Mensch sein.
Thea Johannsson
Leistungen und Defizite kapitalistischer Gesellschaften - auch am Beispiel der Corona-Krise
2. Sitzung des Café Philo Chemnitz im Wintersemester 2020/21 im November 2020
Videokonferenz
Moderation: Thea und Bruno Johannsson
Gedächtnisprotokoll: Thea Johannsson
18 Anwesende
Vorbemerkung: Wegen Corona wurde das Café Philo zum ersten Mal als virtuelle Konferrenz durchgeführt. Das führte dazu, dass die Protokollantin – obwohl auch Moderatorin – ebenso mit der Technik beschäftigt war, wie mit der Verfolgung und Leitung der Diskussion und einen Teil der Diskussion nicht mitbekommen hat.
Als Einstieg war ein kleiner Ein-Mann Sketch geplant, der aber akustisch nicht gut rüberkam, so dass er noch einmal in Kurzfassung erläutert werden musste: Ein Fonds-Manager übernimmt nach Aufkauf der Aktien einer Firma die Geschäfte und teilt der Leitung mit, das sie ihre Rendite von 4% auf 8 % zu steigern habe, z. B. durch Entlassungen.
Danach fasste ich zusammen, dass in der vorigen Sitzung ziemliche Einigkeit darüber geherrscht hatte, dass Akkumulation und die Erwartung, dass Investitionen eine Rendite bringen, ein wesentliches Merkmal des Kapitalismus sei, auch dass diese Erwartung allgemein geworden ist und bis zum kleinsten Sparer durchschlägt. Diese Erwartung motiviert die Bereitschaft zu investieren und hat dazu geführt, dass Firmen technische Neuerungen eingeführt haben, die das Leben vielfach einfacher und bequemer machen. Doch sie führen auch dazu, dass es schnell auf die gesamte Wirtschaft durch-schlägt, wenn es einmal kein Wirtschaftswachstum gibt, so dass diese Erwartung nicht erfüllt werden kann. Ich fragte, was die Teilnehmer von der Niedrig-Zins-Politik der EZB hielten. Die Diskussion klärte, dass diese Politik in der Tat die Sparer benachteiligt, die für ihre Guthaben weniger Zinsen bekommen, dafür die Kreditnehmer bevorzugt. Die Idee dahinter sei, durch niedrige Kreditkosten die Investitionen anzukurbeln. Das hätte in den südeuropäischen Ländern, die sich für diese Politik stark gemacht hatten, auch zum Teil gegriffen. Unerwähnt blieb, dass von den niedrigen Zinsen auch Kreditnehmer profitieren, die nicht in der Realwirtschaft investieren, sondern sie für Aktienaufkäufe und Finanztransaktionen nutzen. Auf jeden Fall unterstreicht die Tatsache, dass staatliche Akteure zu diesem Mittel greifen, dass eine Abschwächung des Wachstums oder gar ein 0-Wachstum auch von der Politik als System bedrohend wahrgenommen wird.
Was bedeutet das für ökologische Ziele? Für diese wäre auch ein sozialistisches System nach den Vorstellungen von Marx nicht die Rettung, denn er ist wie alle Ökonomen seiner Zeit davon ausgegangen, dass durch technischen Fortschritt ein unendliches Wachstum möglich sei. Die Frage war für ihn nur, ob dies besser und sozialverträglicher gleich in die Hand der Gesellschaft gelegt werden solle statt in die Hand privater Eigentümer. Denn der statistische Befund ist eindeutig, dass von den erreichten Vermögenszuwächsen ein immer größerer Anteil an immer weniger Haushalte geht. Doch wenn die Natur dieses Wachstum nicht verkraftet, wenn ihre Regenerationsfähigkeit nicht mehr nachkommt, könnte es in beiden Fällen so sein, dass die Menschheit den Ast absägt, auf dem sie sitzt.
Dann übernahm Bruno den Sektor „Märkte“ und fragte nach den Einstellungen der Teilnehmer dazu. Ich meinte, dass man unterscheiden müsse, ob der Markt dem reinen Austausch von Gütern diene – da könne er tatsächlich dazu führen, dass derjenige ein Produkt erhält, der es am meisten braucht oder begehrt – oder ob, wie auf dem Arbeitsmarkt, es Teilnehmer gäbe, die gezwungen seien, zu verkaufen, weil sie sonst in ihrer Existenz bedroht sind. Wolfram Ette problematisierte, dass der ganzheitliche Mensch mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten aufgespalten wird und nur noch ein Faktor an ihm – seine Arbeitskraft – interessiert. Überhaupt wurde angezweifelt, sowohl ob auf dem Arbeitsmarkt die kapitalistische Logik gelten solle, wie dass sie dort tatsächlich funktioniere. Die meisten Teilnehmer fanden die Umverteilungspolitik des Staates, die dazu führen soll, dass niemand verhungert, weil seine Arbeitskraft keinen Abnehmer findet, zumindest im Prinzip richtig. Jan brachte das Beispiel der Altenpfleger: Wir hören dauernd, dass wir davon zu wenig haben. In der Logik des Kapitalismus müsste ihr Lohn also steigen. De facto sei es aber keineswegs ein gut bezahlter Beruf. Ein Teilnehmer erzählte, dass ein Pflegeheim das benötigte Personal nicht finde, obwohl die Leiterin den Lohn aufgestockt hat. Er führte dies darauf zurück, dass der Arbeitsmarkt eben nicht so funktioniere wie Gütermärkte. Da würden die Menschen nicht nur die Lohnhöhe in Betracht ziehen, sondern auch andere Kriterien, z.B. Freude an der Arbeit, Sinnhaftigkeit, soziales Ansehen, Planbarkeit etc. Thea meinte, dass ein Problem auch darin läge, dass zwar mehr Pfleger objektiv gebraucht würden, die Abnehmer aber mit ihren Renten eine leistungsgerechte Vergütung gar nicht zahlen können. Daher sei es ungewiss, wer die Kosten trage, was die Interessenten eventuell dazu bringe, die Zukunftssicherheit dieses Berufes in Zweifel zu ziehen.
Bruno verteidigte die Auffassung, dass vollkommene Märkte zu den besten Lösungen für alle Beteiligten führen. Das könne langfristig auch auf dem Arbeitsmarkt greifen. Allerdings räumte er ein, dass kaum ein realer Markt tatsächlich vollkommen ist anhand der von Wirtschaftswissenschaftlern erarbeiteten Kriterien (u. a. Transparenz, Flexibilität aller Teilnehmer, gleich starke Verhandlungs-position etc). Wolfram Ette meinte, der in diesem Sinne „vollkommene Markt“ sei eine in der Praxis nicht realisierbare Chimäre. Daher solle man sich lieber ansehen, was die Folgen der absehbaren Unvollkommenheiten eines Marktes sind, damit man gegebenenfalls unliebsamen Wirkungen entgegen steuern kann. Ein Teilnehmer führte aus, dass Chile den Versuch gemacht habe, die Wirtschaft nach den Ideen des Nobelpreisträgers Ökonomie Milton Friedman zu organisieren. Das Ergebnis seien so große Ungleichheiten gewesen, dass es zu sozialen Unruhen gekommen ist. In der Tat sei das Motto „Wer hat, der kriegt“, das natürliche Ergebnis freier Märkte, wenn es schon bei der Ausgangslage Ungleichheit gab.
Thea Johannsson
Kapitalismus und Corona
1. Sitzung des Café Philo Chemnitz im Wintersemester 2020/21 im Oktober 2020
Moderation: Wolfram Ette und Jan Friedrich
Gedächtnisprotokoll: Thea Johannsson
12 Anwesende
Die Moderatoren begannen mit dem Hinweis, dass derzeit Corona das vorherrschende Thema ist und zitierten eine Äußerung der Bundeskanzlerin, Corona sei die größte politische Herausforderung seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Könnte das mehr bedeuten als eine propagandistische Übertreibung, könnte eine große allgemeine Seuche für das System „Kapitalismus“ gefährlicher sein als für frühere Wirtschaftssysteme?
Meine Meinung dazu war, dass große Seuchen schon immer und völlig unabhängig vom jeweiligen wirtschaftlichen und politischen System einschneidende Ereignisse waren. Immerhin könnten sie im Kapitalismus noch schwieriger werden, falls es richtig sei, dass dieser auf Wirtschaftswachstum angewiesen ist. Wenn Menschen in Größenordnungen krank werden oder durch Quarantäne ausfallen, ist es absehbar, dass der Produktionsausstoß zunächst sinkt. Allerdings wäre meine Prognose, dass sich das kapitalistische System anschließend durchaus wieder erholen könne. Schon jetzt sei es so, dass die einzelnen Branchen höchst unterschiedliche betroffen seien. Diese Krise würde sicher zu einer wirtschaftlichen Umstrukturierung führen, aber solche hätte das System schon mehrfach durchgemacht.
Mehrere Teilnehmer stimmten zu, dass der Kapitalismus nicht als System gefährdet sei, es gebe aber durchaus Existenzgefährdungen für einzelne Branchen. Zwar sei am Anfang, als man noch wenig über das Virus wusste, der harte Lockdown die richtige Maßnahme gewesen, jetzt aber müsse man vorsichtiger und vor allem gezielter operieren, um diese Branchen nicht völlig abzuwürgen, denn in dem Falle würden sie anschließend an die Krise durchaus fehlen.
Es wurde auch angeführt, dass durch die internationale Arbeitsteilung eine Unterbrechung der Lieferketten ein großes Problem darstelle. So seien am Anfang der Krise einige wichtige Artikel zu knapp vorhanden gewesen. Wichtige Komponenten müsse man wenigsten zum Teil auch im Inland herstellen, damit das Know-How überhaupt noch vorhanden ist. Zwar sei es illusorisch völlige Autarkie anzustreben, zumal die wirtschaftliche Kooperation auch friedensfördernd sei, aber unwiderruflich abhängig solle man von Lieferungen von außen besser auch nicht werden.
Auch in der Psychologie der Bevölkerung könnte sich etwas verändern. Wer erzwungenermaßen zu Hause bleiben musste, konnte vielleicht entdecken, dass er auch jenseits von Beruf und Vergnügungsindustrie etwas mit seiner Zeit anfangen konnte und dass sinnvolle Arbeit nicht unbedingt mit Erwerbsarbeit gleichzusetzen ist. Wird die Bevölkerung anschließend das bisherige System noch wollen oder auf Änderungen drängen?
In der ersten Gesprächsphase wurde schon deutlich, dass wohl manchmal auch unterschiedliche Auffassungen darüber im Raum standen, was Kapitalismus ist. Daher fragten die Moderatoren die Teilnehmer, was sie unter „Kapital“ verstehen. Meine Definition war: sämtliche Ressourcen, die eingesetzt werden, um hinterher mehr rauszubekommen, als man hineingesteckt hat. Ich brachte das Beispiel eines Jungsteinbauern, der einen Überschuss an Korn geerntet hat, mehr als in sonstigen Jahren, mehr als er für das kommende Jahr voraussichtlich zum Überleben braucht. ER kann dieses Korn lagern als Absicherung gegen eventuelle künftige Missernten, er kann im kommenden Jahr üppiger leben oder etwas weniger arbeiten, weil er noch auf diese Überschüsse zurückgreifen kann. Zum Kapital werde dies zusätzliche Korn aber erst, wenn er es nutzt, um einen besseren Pflug zu bauen, wofür er dann schon eine Idee gehabt haben müsste. Das ist ein Experiment, das Zeit kostet, die er bei normalem Vorrat sich nicht hätte nehmen können. Gelingt sein Plan und kann er mit dem neuen Pflug wirklich besser arbeiten, so könne er ein größeres Feld bestellen mit der Aussicht jedes Jahr mehr zu ernten als bisher.
Es entspann sich dann ein Disput darüber, ob ein Bauer mit einem solchen Verhalten in der Jungsteinzeit überhaupt denkbar gewesen sei oder ob wir damit Denkweisen von heute in die Vergangenheit zurück projizieren und sie damit als quasi grundlegende menschliche Eigenschaft auffassen.
Wir waren unterschiedlicher Ansicht über die Frage der menschlichen Konstante, zum Beispiel ob Neugier und Lust auf Neues eine solche Konstante ist, konnten uns aber darauf einigen, dass die Entfaltung menschlicher Anlagen auch von den Umweltbedingungen abhängt. Wenn das Leben ohnehin unsicher ist und man alle Kräfte darauf richten muss, überhaupt zu überleben, wird man nicht auch noch mutwillig Abenteuer aufsuchen oder auch sehr vorsichtig mit Experimenten sein. In einer Überflussgesellschaft könnte eine derartige Veranlagung leichter zum Tragen kommen.
Die Denkweise des Investierens, um mehr zu bekommen, konnte sich erst in der Neuzeit entfalten, weil da der Wissenschaftsbegriff sich wandelte, die Teilung zwischen praktischen Experimenten der Handwerker und rein logischer Überlegung der Gebildeten wurde aufgehoben und war sehr erfolgreich. Die finanzielle Ermöglichung solcher Experimente und die Umsetzung ihrer Ergebnisse konnte dadurch tatsächlich zu bemerkenswerten Steigerungen der Produktion führen. Diese Erfahrung machte es zu einer Selbstverständlichkeit, Fortschritt in diesem Sinn zu erwarten und das Risiko, das solche Experimente auch misslingen konnten, die Investition also verloren sein könnte, als zumindest im Gesamtprozess irrelevant anzusehen.
Der Kapitalismus hat somit in seinen Anfängen tatsächlich dazu beigetragen, die wissenschaftliche Forschung voranzutreiben und auf praktische Felder zu lenken. Die Frage ist, ob er das noch immer tut. Die Finanzierung durch eine Firma legt es auch nahe, die Ergebnisse als „Betriebsgeheimnis“ zu behandeln und läuft damit dem seit dem Mittelalter bestehenden Ideal des wissenschaftlichen Austausches zuwider. Auch ist die Grundlagenforschung in wichtigen Feldern inzwischen so kosten-intensiv und so gefährlich, dass eine einzelne Firma das gar nicht mehr tragen kann. Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass das CERN, die derzeit größte wissenschaftliche Anlage Europas nicht von Firmen finanziert wird und auch nicht unter dem Druck steht, sich bald „rentieren“ zu müssen.
Auch gewisse politische Bedingungen waren Voraussetzung für die Durchsetzung dieser Denkweise, nämlich eine gewisse Respektierung des Eigentums. Investitionen setzen immer auf die Zukunft. Wenn es zu ungewiss ist, ob man die Früchte seiner Investition auch selbst ernten kann, selbst wenn man „auf das richtige Pferd gesetzt“ hat, wird man wohl lieber schnell konsumieren als investieren.
Ein anderer warf den Begriff „Kredit“ ein. Im kapitalistischen System werde das Geld, somit die Mittel vieler Menschen zusammengefasst, die das Vertrauen hätten, dass der Kreditnehmer damit genug erwirtschaften kann, um ihr Vertrauen und ihren zeitweiligen Verzicht zu entlohnen.
Wenn es viele „Kreditgeber“ gibt, die alle erwarten, dass sich ihre Investition derart auszahlt, dass sie am Schluss mehr erhalten, als sie eingezahlt haben, liegt es auf der Hand, dass diese Erwartung nur erfüllt werden kann, wenn die Produktion tatsächlich wächst – und zwar die sinnvolle Produktion, für die es am Schluss auch zahlungsfähige und –bereite Abnehmer gibt.
Fragen, die sich für mich aufwerfen:
Ist Globalisierung mit Kapitalismus gleichzusetzen oder ist sie „nur“ die zu erwartende Folge?
Gehört zum Kapitalismus zwingend das Privateigentum an Kapital (oder die oben skizzierte Erwartungshaltung und Absicht auch bei anderen Akteuren, z. B. dem Staat)
Welche Rolle spielt die Konkurrenz?
Wäre eine Wirtschaftsordnung ohne Wachstum wünschenswert?
Thea Johannsson
Grundthema des Café Philo im Wintersemester 2019/20 war
Zukunft
Hier die Einladung zur 2. Sitzung
Worst-Case-Prognose der Verschiebung der globalen Klimazonen bis 2100
Zukunftsprognosen - wie sie entstehen und was sie taugen.
Moderation: Thea und Bruno Johannsson
Dienstag, 5. November 2019, 19 Uhr, Weltecho-Club, Annaberger Str. 24, Chemnitz
Hier das Protokoll der 1. Sitzung
Was ist Zukunft?
Gedächtnisprotokoll von Thea Johannsson zur 1. Sitzung des Café Philo, Chemnitz, am 8.10.2019
, Die Sitzung wurde eingeleitet mit dem Abspielen des Schlagers „Strahlend wird die Zukunft sein“ aus den 90er Jahren. Eine Teilnehmerin erinnerte sich daran, dass dies damals auch ein Slogan der Atomkraftgegner war, in dem das Wort strahlend durchaus doppeldeutig gebraucht wurde. Die Gefahr, die von einem Atomkrieg ausgehen könnte, wurde ja schon in den 50er Jahren durchaus lebhaft disku-tiert, das Unbehagen wurde dann auch auf die friedliche Nutzung der Atomkraft ausgedehnt. Der Text des Schlagers legte allerdings nahe, dass dies nicht das einzige Unbehagen war, das zum Ausdruck kommen sollte.
Wenn sowohl die Verstromung von Kohle, Erdöl, Gas etc. wie die von Atomkraftwerken unkalkulierbare Risiken aufwerfen, kann das Versprechen „Wohlstand für alle“, das sowohl der Kapitalismus wie der Kommunismus als Zukunftserwartung nahe legten, überhaupt eingehalten werden? So verständlich es ist, wenn auch andere Völker sich nach dem Lebensstandard sehnen, den wir im Westen schon lange wie selbstverständlich genießen, kann die Erde die dafür nötigen Ressourcen überhaupt zur Verfügung stellen?
Eine Teilnehmerin meinte, wie leben hier ja bereits auf sehr hohem Niveau, und unser Lebensstil wirke auf viele andere Völker wie das reine Schlaraffenland, da sei es durchaus zumutbar, dass wir es uns damit genug sein lassen, ja vielleicht sogar zurückstecken. Wenn jedes Individuum seine Gewohn-heiten überprüfen und Verschwendung vermeiden würde, auch wenn dies vielleicht ein paar Unbequemlichkeiten oder etwas Verzicht bedeute, so wäre schon viel gewonnen.
Der Moderator meinte, die Zukunftserwartung, die wir als Kinder und Jugendliche entwickelten, hätte einen bedeutenden Einfluss auf unser späteres Verhalten. Er selbst sei mit dem Vorsatz seiner Eltern groß geworden „Euch wird es einmal besser gehen als uns“. Nach der Wende mussten die Eltern selbst zurückstecken, und er lebte in dem Gefühl: „Niemand weiß, wie es weitergehen wird. Also kann man sich auf die Zukunft auch nicht sinnvoll vorbereiten.“ Neben der Verunsicherung war damit aber auch ein Gefühl der Ermächtigung verbunden. „Wenn ich eh nicht weiß, was kommt, kann ich auch das studieren, was mich wirklich interessiert.“
Dann forderte er die Teilnehmer auf, die Zukunftserwartungen ihrer Kindheit und Jugend möglichst auf einen Begriff zu bringen. Die Erläuterungen hinterher zeigten, dass in der Tat, die ältere Generation mit positiveren Zukunftserwartungen aufgewachsen war als die jüngere. Dabei war deren Ausgangsposition auch keineswegs rosig. Insbesondere eine Teilnehmerin erzählte mit verständlichem Stolz, dass sie zwar auf Grund ihrer bürgerlichen Herkunft und christlichen Haltung in der DDR der 50er Jahre vom Besuch der Oberschule und einem Studium ausgeschlossen war, dass sie es aber trotzdem zu einer leitenden Stellung im Bereich der Krippenerziehung gebracht hat, wohl weil sie ja die nötige Intelligenz und Organisationstalent hatte. Nach der Wende musste sie sich wieder umorientieren und erarbeitete sich wiederum eine leitende Stellung in der Altenpflege. Diese Fähigkeit, sich wechselnden Situationen anzupassen und das Beste daraus zu machen, verdankte sie ihrer Meinung nach vor allem einer beschützten und liebevollen Kindheit. Die hätte ihr geholfen, das Motto zu verwirklichen: „Man darf die Hoffnung nie aufgeben“. Dieser Maxime stimmte ein anderer Teilnehmer voll zu. Interessanterweise waren auch zwei jüngere Teilnehmer der Meinung, dass zumindest ihre persönliche Zukunft wohl vor allem von ihnen selbst abhänge.
Nach der Pause wurde dann die Anregung einer jüngeren Teilnehmerin aufgegriffen, jetzt doch auch einmal über die Gegenwart zu sprechen und über die Frage, wie weit man derzeit die Zukunft planen könne. Dabei ergab sich schon eine große Spannweite in der Frage, ob und wie man denn den Begriff „Gegenwart“ definieren könne. Ein Teilnehmer meinte, Gegenwart sei gerade mal der Zeitraum, in dem man „jetzt“ sagen könne, alles andere liege schon entweder in der (jüngsten) Vergangen-heit oder Zukunft. Ein anderer wiederum fand, dass eigentlich alles Gegenwart sei, denn eigentlich haben wir von der Vergangenheit und der Zukunft nur unsere Vorstellungen derselben. Diese seien aber wiederum ein Teil der Gegenwart. Ein Teilnehmer machte den Vorschlag, als Gegenwart den Zeitraum zu betrachten, in dem ein System einigermaßen stabil sei (was rhythmische Veränderungen nicht ausschließe). Bei dieser Definition hänge es vom betrachteten Objekt ab, wie lange man in diesem Sinn von „Gegenwart“ sprechen könne. Die Gegenwart einer Eintagsfliege sei eine ganz andere als etwa die eines Berges. Wir konnten uns nicht einmal darauf einigen, ob es für die Generationen in den letzten zwei Jahrhunderten tatsächlich eine Beschleunigung von Wandlung und damit häufigere Not-wendigkeit zur Umorientierung gegeben habe, als für die früheren, oder ob dies nur ein subjektives Empfinden sei. Man wachse ja jeweils in die Gegebenheiten der eigenen Zeit hinein und Ältere hätten sich wohl auch zu allen Zeiten den Wandlungen ein wenig entzogen. Das gelte zumindest für kontinu-ierliche Wandlungen wie den Fortschritt der Technik. Wandlungen, die durch Kriege oder Naturkata-strophen bedingt sind, könnten das Leben der Einzelnen viel einschneidender verändern, kamen aber zu allen Zeiten vor, so dass man da wohl nicht von einer Beschleunigung sprechen kann.
Dass die Zukunft von uns Flexibilität verlangen wird, war etwas, dem alle zustimmten, die offene Frage war nur, ob das wirklich etwas Neues in der Geschichte ist. Alle Prognosen, die wir anstellen, auch alle Planungen kann man unter verschiedenen Grundannahmen machen. Wir machen das im Alltag auch ganz spontan: „Wenn Plan A nicht klappt, könnte ich noch das und das machen“, halten also einen Plan B in der Hinterhand. Vieles lässt sich mit Computern sehr genau berechnen, allerdings müssen auch die möglichen Interdependenzen berücksichtigt werden – und davon gibt es unendlich viele. Nicht zuletzt sind unsere Prognosen selbst ein Einflussfaktor.
Das Grundthema im Sommersemester 2019 klingt schrecklich:
Hass
Dazu haben die ersten beiden Sitzungen stattgefunden.
Wer sich auf die folgenden Sitzungen einstimmen möchte, findet dazu folgende Texte auf dieser Homepage:
1. Unser Gedächtnisprotokoll zur 1. und 2. Sitzung (siehe unten).
2. Unseren Dialog "Weltanschauung - Toleranz - Gewalt", der im vorigen Jahr im dritten Band unserer philosophischen Dialoge erschienen ist. (Siehe Rubrik Leseproben)
2. Unser Gedächtnisprotokoll des Vortrags von Prof. Ralf Vogel, den dieser am 30.März 2019 bei der VHS Chemnitz gehalten hat über das Thema "Tiefenpsychologische Aspekte von Hass und Gewalt" (siehe Rubrik Essays)
Hass in der Krise
Gedächtnisprotokoll von Thea Johannsson zur 4. Sitzung des Café Philo, Chemnitz, am 2.7.2019
Zunächst erinnerten die Moderatoren kurz an die vorangegangene Sitzung (Was macht Hass mit dem Gehassten?). Sie waren von Andersens Märchen vom hässlichen Entlein ausgegangen und hatten sich dann mit dem Publikum alternative Schlüsse überlegt. Denn leider ist das Happy End, das es bei Andersen gab, nicht selbstverständlich. Hass kann auch zu völligem Verlust des Selbstvertrauens oder zu massiver Gegenaggression führen. Im Amoklauf kommt vielleicht beides zusammen. Es wurde noch einmal auf das frühere Ergebnis verwiesen, dass Hass sehr oft auf einer Ohnmachtserfahrung beruht.
Doch das Thema dieser Sitzung sollte der Zusammenhang von Hass und Gesellschaft sein. Befindet sich unsere Gesellschaft in einer Krise und nimmt deshalb der Hass zu? Schon diese Fragestellung wurde von einem der Teilnehmer problematisiert: Gibt es tatsächlich eine aktuelle Krise, die merklich über die Probleme hinausgeht, die Gesellschaften zu allen Zeiten belasteten? Hat wirklich der Hass zugenommen oder nur die öffentlichen Äußerungen von Hass, was durch die modernen Medien erleichtert wird?
Im Folgenden drehte sich die Diskussion über die Wirkung der neuen Medien. Unbestritten war, dass Äußerungen, die früher allenfalls auf den privaten Umkreis beschränkt blieben, durch das Internet eine enorme Verbreitung erfahren und dass man auf Grund der Anonymität des Internets auch Dinge zu sagen wagt, die man früher zumindest nicht öffentlich vertreten hätte. Ein Teilnehmer warf ein, dass inzwischen Hassposts durchaus auch unter Klarnamen geschehen. Doch diese Entwicklung könnte damit zusammenhängen, dass er im Internet auch Zustimmung durch Gleichgesinnte erfährt, somit erkennt, dass er mit seiner Meinung bzw. seinen Gefühlen nicht allein dasteht.
Einig waren wir uns auch, dass das Internet mehr bewirkt, als Meinungen eine größere Reichweite zu verschaffen und Gleichgesinnte zusammen zu bringen. Durch das Feedback werden Meinungen verfestigt. Es können Gesinnungsblasen entstehen, die von Realitäten abschotten und in denen die Emotionen verstärkt werden. Es wurde auf den Ausspruch von Hannah Arend verwiesen, dass die öffentliche Meinung neue Realitäten schafft.
Einer meinte, dass die teilweise rüde Sprache auch damit zusammenhängen könnte, dass die neuen Medien besonders das Sprachrohr und Kommunikationsorgan von Jugendlichen sind, die zu Extremen auch in ihren Formulierungen neigten. Wird das dazu führen, dass wir Dinge und Aussagen als normal betrachten, die früher als ordinär angesehen wurden? Oder ist es im Gegenteil so, dass wir dank wissen-schaftlicher Untersuchungen für Sprache und ihre mögliche Wirkung sensibler geworden sind und man versucht, schon Begriffe auszumerzen, die früher als normal empfunden wurden (Beispiel: Weib, Mohr).
Jedenfalls liegt in der Wirkung der Medien, ein Weltbild zu schaffen, auch eine Gefahr, denn Medien, ob klassisch oder neu, unterliegen der „Aufmerksamkeitsökonomie“, das heißt, sie haben ein besonderes Interesse an Meldungen, die Reizschwellen überschreiten. Wer also für seine Sache, welcher Art auch immer, öffentliche Aufmerksamkeit erreichen möchte, tut gut daran, an Grenzen oder sogar darüber hinaus zu gehen. Wenn das aber alle tun, bedeutet dies, dass die Grenzen sich verschieben.
Jedenfalls waren sich alle einig, dass Hate-Speach in der Tat zugenommen hat. Eine Teilnehmerin führte an, dass auch die Polizei sich darüber beklage, dass Polizisten öfter als früher verbal und körperlich angegangen würden. Sie wisse nicht, ob das eine subjektive Einschätzung sei oder ob es belastbare Daten gebe, doch wenn dies den Tatsachen entspräche, wäre dies ein Indiz dafür, dass auch die tatsächliche Aggressivität in der Bevölkerung zugenommen habe. Außerdem würden auch andere darüber klagen, dass der Respekt vor Autoritäten stark nachgelassen habe, was die Beilegung von Konflikten erschwere.
Ein Verstärker für öffentliche Hassäußerungen sei vielleicht auch der Tatbestand, dass Konflikte immer weniger offen ausgetragen werden. Man prügelt sich nicht mehr bei Meinungsverschiedenheiten. Auch im Parlament gäbe es kaum noch Auseinandersetzungen zwischen den klassischen Parteien, sondern es werden in Ausschüssen Kompromisse ausgehandelt, die dann als alternativlos dargestellt werden. Das macht es schwerer, sich mit den Positionen einer Partei zu identifizieren.
Der Moderator kam noch einmal auf seine Ausgangsfrage zurück: Wenn wir festgestellt haben, dass Hass häufig eine Ohnmachtserfahrung zur Grundlage hat, gibt es nicht wirklich eine Entwicklung zum Schlechteren in unserer Gesellschaft, eine Zunahme von Ungerechtigkeit und eine Erosion des Sozial-staats? Machen nicht immer mehr Menschen die Erfahrung, dass es ihnen schlechter geht als früher? Oder zumindest befürchten sie eine solche Entwicklung. Sie spüren, dass es eine Transformation zu einer neuen Gesellschaft gibt, bei der sie nicht oder nur wenig mitgestalten können und nicht überschauen können, wie sie aussehen wird. Das schafft innere Aggression, die sich aber nur gegen diffuse strukturelle Gegebenheiten richten könne. Daher sei es eine Erleichterung, wenn sich diese Aggression gegen greifbare Gegner richten könne, z. B. die Flüchtlinge.
Was bringt der Hass dem Hassenden? Zunächst eine Aufwertung. Seine Ohnmachtserfahrung, seine negative Gefühlslage ist nicht seine Schuld, sondern die eines bösen Gegners. Die Bekämpfung des bösen Gegners ist eine Ermächtigung, er ist nicht mehr einem undurchschaubaren Schicksal ausgeliefert, sondern kann etwas tun, um die Verhältnisse zurechtzurücken – auch wenn das vielleicht nur in seiner Einbildung so ist. Außerdem verbindet ihn wieder ein gemeinsames Gefühl mit anderen Menschen, nämlich mit denen, die seinen Hass teilen. Die Ohnmachtserfahrung hat vielleicht zu seiner Ausgrenzung oder freiwilligen Abschottung geführt, jetzt ist er wieder Glied einer Gruppe, die in seinen Augen für das Gute kämpft.
Den Schluss hat die Protokollantin wegen Aufbruchs um 21.45 Uhr nicht mitbekommen.
Café Philo
Die Wirkungskette Fanatismus – Hass – Gewalt
Moderation: Thea und Bruno Johannsson
7. Mai 2019, 19 bis ca. 21.45 Uhr, Weltecho
Gedächtnisprotokoll Thea und Bruno Johannsson
28 Anwesende
Die Veranstaltung war mit folgendem Text angekündigt worden:
Was ist Fanatismus? Wodurch unterscheidet er sich von einer starken Überzeugung? Die Genese von Fanatismus? Unter welchen Bedingungen mündet Fanatismus in Hass? Hass als mentale Vorbereitung von Gewalt. Das Syndrom der Gewaltbereitschaft. Das Phänomen der Selbstmordattentäter und Assassinen. Rassismus und Hass.
Fanatismus
Als Einleitung wurde gefragt, wer der Meinung ist, dass Mediziner, die bei „Ärzte ohne Grenzen“ mitmachen etwas Gutes und Bewundernswertes tun. Da stimmten alle Anwesenden einhellig zu. Dann wurde der Fall angeführt, dass ein Arzt schon dreimal dabei im Einsatz war und jetzt von einem Kollegen zu hören bekommt, dass er Anzeichen von Erschöpfung zeige und einen reinen Erholungs-urlaub dringend nötig habe. Obwohl er dies auch selbst spürt, entschließt er sich wieder dazu, seinen Urlaub dem Einsatz bei „Ärzte ohne Grenzen“ zu widmen. Auch hier fand ein großer Teil der Anwesenden dieses Maß an Einsatz bewundernswert, doch hier gab es auch schon Gegenstimmen. Das dritte Szenarium war: Der Sohn eines Arztes ist schwer krank. Diese Krankheit könnte auch zum Tode führen. Doch da im Heimatland die nötige ärztliche Versorgung gesichert ist, entschließt sich sein Vater trotzdem dazu, die Heimat zu verlassen, um denen zu helfen, die sonst keinen Zugang zu medizinischer Hilfe hätten. Hier waren die Meinungen sehr geteilt. Einige fanden diese Konsequenz umso bewundernswerter, weil das Opfer des Arztes ja besonders groß war. Andere meinten, er hätte hier die Bedürfnisse des Sohnes in den Vordergrund stellen müssen. Einige meinten, in diesem Fall hinge auch viel von der Einstellung des kranken Sohnes und der übrigen Familie ab. Würde diese den Einsatz des Vaters voller Überzeugung mittragen, sei die Situation eine andere, als wenn er diese Entscheidung selbstherrlich über die Köpfe der anderen Betroffenen hinweg träfe.
Jedenfalls konnte anhand dieser Beispiele herausgearbeitet werden: Man kann auch ein Engagement in einer guten Sache übertreiben. Die Grenze zwischen Engagement und Hingabe an eine gute Sache zum Fanatismus ist nicht immer leicht zu ziehen. Jedenfalls waren wir uns einig, dass volle Identifikation mit einer Sache unter Zurückstellung vieler anderer Lebensbereiche ein Merkmal von Fanatismus ist. Aber ist es ein ausreichendes Merkmal, um Fanatismus zu diagnostizieren? Ein Teilnehmer meinte, für ihn gehöre zum Fanatismus immer auch eine umfassende Welterklärung. Er erinnerte daran, dass das Wort von „fanum“ (heiliger Bezirk) abgeleitet sei. Ein Einzelideal bzw. ein einziger oberster Wert würden dieses Kriterium nicht erfüllen, auch wenn die Hingabe sehr groß ist.
Für einen anderen war die Gruppenbezogenheit ein wichtiges Merkmal des Fanatismus. Dem mochte die Moderatorin nicht ganz zustimmen. Zwar sei eine Gruppe, die sich gegenseitig anfeuert und aufschaukelt ein Umfeld, in dem Fanatismus sich besonders leicht entwickeln könne, doch könne sie sich auch die Entwicklung eines Einzelnen zum Fanatiker vorstellen in einer Sache, die ihm genügend am Herzen liege. Ein anderer Teilnehmer führte das Beispiel von Georg Eisler an, der sein Attentat auf Hitler allein geplant und durchgeführt und dabei in Kauf genommen hatte, dass selbst Unschuldige getroffen wurden. Er sei sich aber nicht darüber im Klaren, ob man diese Tat verurteilen könne und dürfe. Falls das Attentat gelungen wäre, hätte möglicherweise viel Leid verhindert werden können.
Gewalt
Es wurde darauf hingewiesen, dass das Thema Hass ausführlich in der ersten Sitzung dieses Semesters besprochen wurde (siehe Gedächtnisprotokoll auf dieser Site), worauf aufgebaut werden kann. Die Syndrome Fanatismus und Gewalt sind jedes für sich auch abendfüllend, können heute aber nur relativ kurz diskutiert werden, da die gesamte Wirkungskette im Vordergrund steht.
Der Moderator berichtete von einem Traum, in dem er zwei Männer, die ihn provoziert hatten, niedergeschlagen hatte. Dies steht im Gegensatz zu seinem Verhalten im Wachzustand und wohl auch zu seinen physischen Möglichkeiten. Trotzdem deutet es auf Gewaltbereitschaft im Unterbewusstsein hin. Auf die Frage, ob Anwesende eigene Gewalterfahrungen hätten, sei es als Täter, sei es als Erleidende äußerte sich eine Teilnehmerin. Es käme vor, dass sie Kinder gegen ihren Willen anschreie, was in ihr selbst ungute Gefühle auslöse. Ein Vater warf die Frage auf, ob es Gewaltausübung ist, wenn er seinen Sohn auf sein Zimmer schickt. Dadurch wurde eine Diskussion über die Definition von Gewalt ausgelöst. Gibt es einen weichen und einen harten Begriff von Gewalt? Soll man nur bei physischer Einwirkung von Gewalt sprechen, da man doch auch mit psychischen Mitteln Menschen sehr verletzen und unter Druck setzen, ja ihnen jeden Lebensmut rauben kann? Andererseits: Wird unter Einbeziehung der psychischen Gewalt der Begriff nicht so schwammig, dass man fast jede Handlungsweise, die auf andere einwirken soll, mit diesem Etikett belegen könnte? Ist Anschreien eine Form von Gewaltausübung oder spontaner Ausdruck eines Gefühls der Überlastung und Hilflosigkeit? Ein Teilnehmer meinte, dass Kinder einen durchaus an die Grenzen bringen könnten und dass man ihnen diesen Tatbestand mit ruhigen Erklärungen oft gar nicht kommunizieren könne. Es wurde auch gefragt, ob die Ausübung physischer Gewalt grundsätzlich schlecht sei. Könne eine Gesellschaft überhaupt ganz ohne Polizei und Gefängnis auskommen? Jedenfalls konnte man sich darauf einigen, dass es bei Einsatz von Gewalt zumeist darum geht, andere zu Verhaltensweisen zu zwingen, die diese eigentlich selbst nicht wollen. Gewalt dränge sich oft als die zunächst schnellere Weise auf, zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen. Es wurde auch die Frage nach der „Lust an der Gewalt angesprochen. Der Akt der Gewalt könne auch etwas Befreiendes haben, da in ihm der Einzelne oft eine völlige Übereinstimmung von Körper und Geist erlebe. Auch das Interesse an Gewaltszenen in Filmen und Internet lasse sich nur erklären, wenn man davon ausgeht, dass so etwas eine Art von Lustgefühl beim Betrachter auslöse. Dabei wurde auch die Frage aufgeworfen, ob es sogar eine genetisch größere oder geringere Disposition zu dieser Lust wie auch zu Empathie gäbe. Doch herrschte ziemliche Einigkeit darüber, dass, selbst wenn es so etwas gäbe, die Sozialisation bei dem Zu-Tage-treten dieser Eigenschaften wohl die größere Rolle spiele.
Fanatismus und Hass
Dann wandte man sich der Frage zu, ob Fanatismus in besonderem Maße Hass auslösen könne, da er ja eine besondere Identifikation mit einer Idee oder einem Wert beinhalte. Sicherlich kann dies sehr leicht gegenüber denen geschehen, die aktiv gegen diese Idee arbeiten. Beispielsweise könne ein fanatischer Tierschützer einen aktiven Tierquäler hassen. Andererseits könne ein Fanatiker aber auch ohne persönliche Hassgefühle Menschen für seine Sache opfern, wenn er glaubt, dass es dieser Sache nützt. Und je nach dem Inhalt der Idee kann es auch sein, dass ein Fanatiker weder Hass entwickelt noch anderen Gegenüber Gewalt anwendet, z. B. ein überzeugter Pazifist. Fanatismus könne zwar leicht Hass und Gewalt hervorbringen – insbesondere wenn auch noch gruppendynamische Prozesse im Spiel sind – aber dieser Zusammenhang ist nicht zwingend. Erfahrungen von Demütigung spielen möglicherweise eine größere Rolle als die Identifikation mit einer Lehre oder Idee. Ein Teilnehmer führte an, dass die islamische Kultur zur Zeit ihrer Blüte im Mittelalter sehr tolerant war und zwar gerade in Ländern, in denen sie wirtschaftlich und kulturell blühte und in dieser Hinsicht das christliche Abendland weit in den Schatten stellte. Ist unsere Toleranz möglicherweise vor allem eine Frucht des unangefochtenen Selbstbewusstseins des Westens, der nach der industriellen Revolution und dem vorwiegend dort erzielten wissenschaftlichen Fortschritts sich so leicht überlegen fühlen kann? Die Moderatorin fügte noch an, dass Hass die Tendenz habe sich auszuweiten. Als Beispiel führte sie das Buch „Gotteswahn“ von Richard Dawkins an. Darin griff er nicht nur fundamentalistische Christen an, die die Bibel wörtlich nehmen, sondern schließlich alle, die seiner Meinung nach vor der Religion einknickten und ihr zu viel Raum ließen Schließlich griff er selbst seine Wissenschaftskollegen an , wenn sie irgendeine Form Respekt vor der Religion anklingen ließen anstatt diese Irrtümer mit ihm zu bekämpfen. Sie könne das nur als Fanatismus einstufen und sich dies durch eine quasi-religiöse Einstellung zur Evolutionstheorie erklären. Doch andere Teilnehmer meinten, dass man in seiner Biographie nach den Wurzeln suchen müsse. Die meisten militanten Atheisten seien in streng religiöser Umgebung groß geworden, die sie eingeengt hätte. Leider wusste niemand über die Wurzeln Dawkins Genaueres.
Der gesamte Wirkungszusammenhang von Fanatismus, Hass und Gewalt
Auch Hass und die Ausübung von Gewalt müssen nicht unbedingt zusammenfallen. Es gibt Hassgefühle, die nicht zu einem Gewaltausbruch führen, sei es, dass der Hassende legalere Methoden findet, sich durchzusetzen, sei es, dass er klug genug ist, sich nicht selbst unglücklich zu machen, wenn der Gehasste viel stärker ist. Unter Kriminalisten kursiert die Auffassung, dass weit weniger als 5 % aller geplanten Gewaltakte wirklich zur Ausführung kommen. Es wurden mehrere Fälle von Gewaltanwendungen aufgezählt und die Frage aufgeworfen, welche Rolle Hass und Fanatismus dabei spielen. Raubmord, Serienmorde, Tötung im Affekt, Gewaltausübung im Krieg. Bei einem Raubmord war es ziemlich klar, dass Hass auf die Person des Getöteten kaum eine Rolle spielt. Man will nur an sein Geld. Bei Serienmorden kann die Motivstruktur sehr unterschiedlich sein. Auch bei Tötung im Affekt könne man eigentlich nicht von Hass sprechen, da Hass im Gegensatz zu Wut kein reines Gefühl sei. Allenfalls könne bei einer Person, die ohnehin schon hasserfüllt ist, die Schwelle zum Wutausbruch niedriger liegen, als bei jemandem, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Schließlich ging es um das Selbstmordattentat neuerer Prägung, bei dem häufig weltanschaulicher Fanatismus im Hintergrund stehe, der zu einer Kultur von Hassgefühlen führen kann. Beides, Fanatismus und Hassgefühle senken die Hemmschwellen zur Tötung vieler Unbekannter bzw. erhöhen die Bereitschaft, das eigene Leben einzusetzen. Es wurde die Frage in den Raum gestellt, ob man sich ein islamistisches Selbstmordattentat vorstellen kann, bei dem der Täter ganz nüchtern auf Grund seiner religiösen Überzeugung und ohne Fanatismus und Hass handelt, zumal wenn er möglicherweise hofft, seinen Lohn im Paradies zu empfangen.
Zum Schluss wurde die Frage aufgeworfen, wie man denn einer Entwicklung vom Fanatismus über Hass zur Gewalt entgegenwirken könne. Das ist schon deshalb schwierig, weil Fanatiker dazu neigen, sich gegenüber Andersdenkenden abzuschotten. Allenfalls könne man versuchen, sie auf der Beziehungsebene zu erreichen. Einer der Moderatoren wollte seine Hoffnung auf Bildung setzen, die zu Respekt vor anderen, zu Toleranz und zur Kritikfähigkeit erziehe. Doch es gab auch Skepsis gegenüber der Reichweite und Überzeugungskraft zumindest schulischer Erziehung. Zwei Teilnehmer meinten sogar, innerhalb eines Systems, dass notwendigerweise Verlierer produziere und damit die Erfahrung der Demütigung reproduziere, sei das gar nicht möglich. Würde man einer Form des gewalttätigen Fanatismus den Boden entziehen, würden sich sogleich andere Formen bilden, weil die Menschen dann ein Ventil für ihre Frustration suchen müssten.
Hass – Begriffe und Definitionen
Café Philo Chemnitz
am 2.4.2019 im Theater Komplex, Zietenstr. 32
Moderatoren: Dr. Jan Friedrich und Georg Spindler
Gedächtnisprotokoll: Thea und Bruno Johannsson
18 Anwesende
Die Moderatoren fingen mit der Frage an, ob man auch Objekte hassen könne, z. B. einen Stuhl, an dem man sich jeden Morgen den Fuß stößt. Jedenfalls könne es dann durchaus zu einer Äußerung kommen wie: „Ich hasse diesen Stuhl!“
Aus dem Publikum wurde die Vermutung geäußert, dass der Ärger möglicherweise in Wahrheit einer Person gilt, etwa sich selbst, weil man immer wieder in diese Falle tappt oder dem Partner, der den Stuhl immer wieder in den Weg stellt. Es gab auch weitere Beispiele für die Formulierung von Objekt-Hass: „Ich hasse den Computer“ (der nicht so funktioniert, wie ich es will) oder „Ich hasse Rosa“ (von der Enkelin einer Teilnehmerin geäußert). Natürlich stellt sich die Frage, ob hier Hass überhaupt das richtige Wort ist. Aber diese Frage setzt voraus, dass es eine unbezweifelbar richtige Definition gibt, an der man die Angemessenheit dieses Ausdrucks prüfen kann. Geht man vom tatsächlichen Sprachgebrauch aus, unterstellt man doch so etwas wie eine sprachliche Kontinuität und sucht nach dem gemeinsamen Nenner in dem faktisch sehr unterschiedlichen Gebrauch des Wortes Hass.
Bei dieser Sichtweise leuchtet ein, dass es sehr unterschiedliche Grade des Hasses geben muss. Doch waren man sich einig, dass Hass ein sehr starker Affekt ist und eine negative Einstellung zum Gehassten beinhaltet. Er bezeichnet das, was ich dezidiert nicht will. Ein Teilnehmer meinte, dass im Gegensatz zu Wut oder Zorn zum Hass auch eine gewisse Dauerhaftigkeit gehöre. Ein anwesender Psychologe meinte, er würde Hass unter dem Begriff Aggression subsumieren und sei nicht sehr glücklich damit, weil Hass normalerweise negativ etikettiert werde und es damit schwerer mache, sich dieses Gefühl einzugestehen. Doch sei Aggression ein völlig normales menschliches Gefühl. Es wurde die Frage aufgeworfen, wie sich rationale und emotionale Komponenten bei Hass mischen.
Es wurde der Verdacht geäußert, dass Hass zumeist auch ein Element von Angst oder Hilflosigkeit beinhalte. Hass ist dann die Reaktion, mit der der Mensch sich zumindest in seinem Gefühl und seiner Phantasie dieser Bedrohung entgegensetzt. Als Beispiel wurde Richard III angeführt, der ein Krüppel war, also quasi mit einem Grund für ein angeknackstes Selbstwertgefühl auf die Welt kam.
Ein Teilnehmer wollte Hass als Gegensatz zur Liebe begreifen, wie sie z. B. in der Bibel benutzt wird. Der Liebende will das Wohl des anderen, der Hassende dessen Schaden bis hin zur Zerstörung. Eingewendet wurde, das sei zwar bei oberflächlicher Betrachtung so, aber letzten Endes gäbe es zwischen Liebe und Hass auch Gemeinsamkeiten. Nur so lasse sich die Beobachtung erklären, dass Liebe oft in Hass umschlagen kann. Sowohl der Hassende als auch der Liebende trachten nach Verschmelzung. Dem wurde entgegnet: Liebe trachte nach Verschmelzung mit ihrem Objekt und dessen Aufbau (bzw. dem gemeinsamen Aufbau), der hassende will im Gegensatz dazu die Trennung vom Hassobjekt und dessen Zerstörung. Dem wurde wiederum entgegnet: Letztlich reiche die Zerstörung nicht, sondern man wolle so tun, als sei es nie gewesen. Die Vergangenheit zu ändern sei aber letztlich unmöglich, daher komme der Hassende von seinem Objekt nie los, was auch eine Art Verschmelzung sei, die letztlich im Tod stattfindet. Der konsequente Endpunkt nicht eingedämmten Hasses sei der Amokläufer, der sich umgeben von einem Berg von Leichen dann selbst umbringt.
Es wurde noch einmal der Gedanke aufgegriffen, dass Hass ein andauernder Affekt sei. Woher kommt die Energie, mit der Menschen ihr Hassobjekt verfolgen? Sie muss aus dem Affekt kommen. Auch wenn es Menschen gibt, die das Ausleben ihres Hasses, die Schädigung des Gehassten, dann sehr diszipliniert und mit eiskalter Ratio umsetzen.
Nach der Pause wurde dieser Gedanke wieder aufgegriffen. Wenn Müller den Wahlkampf von Trump so akribisch untersuchte, der Sohn von Veit Harlan und Simon Wiesenthal ihr Leben der Aufgabe widmeten, Nazi-Verbrecher vor Gericht zu bringen, war dann nicht auch Hass die Quelle, aus der sie Energie für die damit verbundene Anstrengung nahmen? Ein Teilnehmer erwähnte, er habe die Autobiografie von Wiesenthal „Recht – nicht Rache“ gelesen, und hätte den Eindruck, dass diese Maxime ehrlich sei, auch wenn Autobiographien natürlich immer eine gewisse Selbststilisierung darstellten. Schöpften sie also die Energie für ihr sehr starkes Engagement, das ihren ganzen Lebensweg bestimmte, aus ihrem Hass gegen diese Personen, bzw. das System des Nationalsozialismus oder aus ihrer Begeisterung für ihr Ideal der Gerechtigkeit bzw. des Rechtsstaates. Eine Teilnehmerin meinte, dass man bei dem Maß des Einsatzes vielleicht eher von Fanatismus sprechen sollte als von Hass. Jedenfalls sei ihre Hingabe für etwas Positives, die Gerechtigkeit, so groß gewesen, dass sie damit die Ressentiment-Komponenten, die auch vorhanden gewesen sein könnten, zähmen und kanalisieren konnten.
Das war natürlich nur möglich, weil es Institutionen gab, denen man glaubte, die Gerechtigkeit anver-trauen zu können. Es gab Zeiten in der Geschichte, in denen es ein derartiges Rechtswesen nicht gab, sondern die „Wiederherstellung der Gerechtigkeit“ den Familien und Sippen anheimgestellt und die Blutrache eine allgemein anerkannte Institution war. War die Pflege von Hass oder zumindest Rache-bereitschaft in solchen Gemeinschaften nicht geradezu eine Notwendigkeit, um sich nicht als leichtes Opfer für alle zu kennzeichnen und somit in der Tat geradezu eine Pflicht für die Hinterbliebenen?
Ein Teilnehmer stellte den interessanten Vergleich mit einem Verbrennungsmotor an. Physikalisch gesehen handelt es sich um eine Reihe von Explosionen. In der Natur wirken sich Explosionen zumeist sehr zerstörerisch aus (zumindest aus menschlicher Sicht), doch im Verbrennungsmotor wurden sie so gedämpft und kanalisiert, dass sie das Auto vorwärtstreiben. Könnte man Aggession und Hass also auch positiv nutzbar machen?
Einer Teilnehmerin fiel der Film „Aus dem Nichts“ ein. Wenn ein Mensch durch ein Verbrechen seinen gesamten Lebensinhalt verliert, kann der Wunsch nach Vergeltung durchaus das Einzige sein, was seinem Leben noch einen Sinn zu geben vermag und ihn somit – zumindest für eine gewisse Zeit – am Leben halten. Allerdings braucht es dann im Lauf der Zeit wohl doch den Aufbau eines weiteren Sinns, denn sowohl wenn die Vergeltung scheitert wie wenn sie stattfindet, bricht die Rache als Sinngebung ja zusammen.
Das Wintersemester 2018 stand unter dem Grundthema "Toleranz".
Hier das Unterthema der 1. Sitzung am 2.10.18 im Lokomov. die wir moderiert haben:
Toleranz und starke Überzeugung – ein Dilemma?
Toleranz in Weltanschauungsfragen: Kann ein Orthodoxer tolerant sein? Das Problem stellt sich in allen Weltreligionen, aber auch beim Atheismus (Richard Dawkins) und beim Eintreten für Menschenrechte. Toleranz in Geschmacksfragen: Kunst, Mode, Lebensstil usw.Wie soll man sich in Gegenwart eines Ganz-Anders-Seienden wohl fühlen? Toleranz in der Politik: Rechte für Minderheiten, Machterhaltungsstrategien. Das sind einige der Themen, die uns an diesem Abend beschäftigen könnten.
Das Sommersemester 2018 stand unter dem Grundthema "Wirklichkeit".
Wir moderierten die 3. Sitzung am 8.5.2018 im Lokomov mit dem Unterthema
Subjektivität - Objektivität. Wo fängt Verzerrung an?
Anwesenheit: Ca. 15 Personen
Gedächtnisprotokoll: Thea und Bruno Johannsson
Die Moderatoren begannen mit einem Sketch:
Bruno nachdenklich: Thea, wie siehst du mich?
Thea blickt irritiert auf: Mit oder ohne Brille?
Bruno stutzt kurz: Na ja. Mit Brille. Sieh mich doch mal genau an! Was siehst du da?
Thea: Lauter Sommersprossen und ein paar komische Flecke im Gesicht.
Bruno: Erstaunt und empört: Ich? Sommersprossen? (Er holt einen Spiegel heraus und blickt hinein) Hast du etwa deine Brille nicht geputzt?
Thea nimmt die Brille ab und blickt hindurch: „Oh“ (Sie fängt an, die Brille zu putzen)
Die erste Frage an das Publikum war:
„Was halten Sie von Theas Antwort auf Brunos Frage. Es entspann sich ein kleiner Disput darüber, ob man normalerweise mit Brille schlechter oder besser sieht als ohne, denn eigentlich sind Brillen ja dazu da, Sehfehler des Auges zu korrigieren. Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass es manchmal getönte Brillen gibt, z. B. Sonnenbrillen. Durch sie sehen wir die Wirklichkeit, insbesondere Farben anders als wir sie ohne Brille wahrnehmen würden. Aber ist die Wahrnehmung des gesunden menschlichen Auges die einzig richtige? Wie würden sich die Dinge darstellen für ein Wesen mit Facettenaugen? Somit kamen wir zur Frage, ob technische Hilfsmittel zur Erweiterung unserer Sinnesfähigkeiten die Wahrnehmung der Wirklichkeit eher erleichtern oder stören. Häufig sind ja die neuen Wahrnehmungen für unseren Alltag nicht sehr relevant. In gewisser Weise sehen wir unsere Umgebung immer durch eine Brille oder einen persönlichen Filter.
Das gilt auch, oder sogar noch mehr, bei abstrakteren Dingen. Wenn etwa Thea Brunos Frage im übertragenen Sinne aufgefasst und mit einer Charakterbeschreibung geantwortet hätte, sagt dann ihre Antwort nur etwas über Bruno aus oder auch über Thea selbst? Sicherlich ist beides der Fall. Doch wies ein Teilnehmer darauf hin, dass man, wenn man mehrere Personen nach ihrem Eindruck von Bruno fragen würde und die Antworten alle ähnliche Elemente enthielten, wohl davon ausgehen könne, dass da auch tatsächliche Persönlichkeitsstrukturen von Bruno erfasst würden, der intersubjektive Vergleich kann uns also helfen, uns der Wirklichkeit über Bruno anzunähern.
Hier brachte ein Teilnehmer die Methoden der Wissenschaft ins Spiel und erwähnte Popper, so dass Bruno die Leitung der Diskussion übernahm. Er bat den Teilnehmer, noch einmal die Popper‘sche These für alle zu erläutern. Sie lautet: eine wissenschaftliche These muss so gestaltet sein, dass sie die Bedingung für ihre Falsifizierung mit angibt. Werde der entsprechende Versuch gemacht und die These dadurch nicht widerlegt, so gilt sie als erhärtet, aber noch nicht als wahr. Eine absolute Verifizierung sei gar nicht möglich, da kein Mensch alle möglichen Prüfsteine, die vielleicht erst noch in der Zukunft entdeckt werden, voraussehen könne. Immerhin sei es anerkannte Praxis, mit einer überprüften und nicht falsifizierten These weiterzuarbeiten. Diese Praxis führe ja auch häufig zu durchaus hilfreichen praktischen Ergebnissen und Konsequenzen.
Thorolf brachte dann das Beispiel mit dem Tisch, dessen Höhe man messen kann. Die Messung kann von mehreren Personen mit entsprechenden Geräten wiederholt werden. Das Ergebnis ist eine intersubjektiv akzeptierte Aussage über die Höhe des Tisches, die solange gilt, bis jemand nachweist, dass sie nicht zutrifft.
Darauf kam der Einwand, dass diese Art der Wahrheitsprüfung zu einseitig auf die Naturwissenschaften ausgerichtet sei. Nicht jede Beobachtung sei intersubjektiv beliebig wiederholbar. Im Bereich der Psychologie könne das Wissen darum, beobachtet zu werden, das Verhalten der Beobachteten beeinflussen – und diese Möglichkeit gilt sogar für Elementarteilchen auf der subatomaren Ebene. Jedenfalls schränke die Forderung nach Falsifizierbarkeit den Bereich der auf diese Weise beantwortbaren Fragen ein. Oft sind es aber gerade solche Fragen, die die Menschen besonders stark bewegen. Dies sind sehr oft Fragen, die Popper „Letztfragen“ nennt. Sie sind seiner Meinung nach nicht falsifizierbar und daher nicht wissenschaftlich.
Eine Frau stellte die Frage, ob nicht manchmal subjektive Aussagen wahrer sein könnten als „objektiv“ erhärtete. Die Möglichkeit kann man nicht von der Hand weisen. Doch ist es schwer, eine derartige Erkenntnis zum Allgemeingut zu machen.
Wolfram erläuterte, dass normalerweise die Menschen an dem festhalten, was ihren Sinnen evident sei und den Praxistest bestehe. Das habe eine „hinreichende Objektivität“, um das Leben zu bewältigen. So sprächen die Menschen trotz der allgemeinen Akzeptanz der These, dass die Erde eine Kugel sei, ganz unbefangen von „oben“ und „unten“. Da wir uns normalerweise auf der Erde bewegen, brauchen wir keine auf den Weltraum bezogenen, genaueren Bezeichnungen.
Zum Schluss zeigte Thea ein Bild von Picasso, einen Frauenkopf, mit der Frage, ob das nun ein anderer Zugang zur Wahrheit oder eine Verzerrung sei. Ein Teilnehmer meinte, das Aufkommen der abstrakten Malerei habe auch mit der Erfindung der Fotografie zu tun. Da diese in der Darstellung der Wirklichkeit, wie Menschen sie sehen, nicht zu überbieten sei, mussten die Künstler neue Ziele finden. Ein anderer meinte, die Bilder zeigten etwas von dem Beziehungstand Picassos zu dem Modell. Solange er in eine Frau verliebt gewesen sei, habe er sie normalerweise auf eher herkömmliche Weise gemalt. Doch alle waren sich einig, dass sich die Kategorien „objektiv richtig“ und „verzerrt“ im Hinblick auf Kunstwerke verbiete. Künstler hätten immer die Absicht, mehr darzustellen, als man normalerweise sieht. Das gelte selbst für Fotografen, auch deren Bilder seien zumeist mit sorgfältiger Wahl der Pose, des Hintergrunds und der Beleuchtung Inszenierungen auf einen bestimmten Effekt hin.
Das Café Philo begann im Sommersemester 2011 mit dem Grundthema Arbeit.
Das Unterthema der 4. Sitzung lautete:
Lohn der Arbeit. Arbeit und Wirtschaftsordnung
Gedächtnisprotokoll der Sitzung des Café Philo am 7.6.2011 im Cafe Tietz, Chemnitz
Moderatoren:
Sabine Jainski, TV-Journalistin, hat unter anderem ein Feature über das bedingungslose Grundeinkommen produziert.
Thomas Mäder, Ingenieur, Mitglied bei Attac, Schwerpunkt Energie.
Gedächtnisprotokoll: Thea Johannsson
Die Moderatoren begannen mit einem Spiel: Die Teilnehmer sollten sich in einer Reihe aufstellen, die anzeigte, ob ihre Tätigkeit ihrer Meinung nach ausreichend bezahlt sei. Anschließend sollten sie eine neue Reihe bilden, danach, ob sie meinten, dass ihre Arbeit ausreichend geschätzt würde . Interessant war, dass beide Reihen sich durchaus unterschiedlich gestalteten. Eine deutliche Mehrheit war der Ansicht, dass ihre Arbeit zu schlecht entlohnt werde (spielt da auch das Wissen eine Rolle, dass im Allgemeinen im Westen die Löhne für die gleiche Arbeit höher sind?). Bei der Frage nach der Wertschätzung hatte der Pulk nicht so einen deutlichen Schwerpunkt am unteren Ende, sondern verteilte sich etwas gleichmäßiger über die Linie.
Wir stellten also fest, dass es eine deutliche Diskrepanz zwischen Bezahlung und gefühlter Wertschätzung gibt. Eine Buchhalterin beklagte, dass sie etwas Anerkennung von Seiten ihres Chefs vermisse, obwohl sie sich ausreichend, wenn auch nicht etwa üppig, bezahlt fühlte. Als die Moderatorin dafür sprach, dass es für einige -durchaus gesellschaftlich notwendige und sinnvolle - Arbeiten normalerweise "nur" Liebe gäbe, meldete ich mich mit der Frage, ob es nicht natürlich sei, dass man sich in gewissem Grade für eins von beidem entscheiden müsse. Ich begründete dies mit der Selbstbeobachtung, dass mein Dankbarkeitsgefühl z. B. gegen Freunde, die mir meine Wohnung umsonst tapezieren, größer sei als die gegenüber einem bezahlten Maler. Eine Teilnehmerin betonte daraufhin, dass Malerarbeit durchaus anspruchsvolle und richtige Arbeit sei und meinte, dass sie es durchaus sinnvoll fände, auch Freunde dafür zu bezahlen. Damit hatte sie natürlich die eigentliche Stoßrichtung meines Arguments nicht erfasst: ich hatte sagen wollen, dass die Dankbarkeit für ein Geschenk im Allgemeinen (oder nur bei mir?) größer sei, als für eine Leistung, für die der Empfänger eine adäquate Gegenleistung erbringt.
Und es bestand wohl auch Übereinstimmung im Publikum darüber, dass es angebracht ist, auch Leistungen von Freunden zu bezahlen, wenn diese auf dem normalen Arbeitsmarkt kein vernünftiges Einkommen erzielen
Auch Geld ist in gewissem Maß ein Maßstab für die Wertschätzung einer Arbeit, und nicht zuletzt deshalb die Höhe des Lohns auch für die Menschen wichtig, die Freude an ihrer Arbeit haben.
Ein Teilnehmer meinte, dass Geld vor allem drei Funktionen habe:
- wir brauchen es in unserer Gesellschaft als Lebensgrundlage
- es ist Vermittler der wirtschaftlichen Vernetzung und steigert dadurch die Effektivität des Wirtschaftens
- es dient als Maßstab der gesellschaftlichen Wertschätzung.
Dann ging es zur Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen über. Schon von Anfang an waren Schaubilder gezeigt worden, etwa darüber, dass ohnehin ein beträchtlicher Teil der getanen Arbeit im nichtkommerziellen Sektor stattfindet (Familienarbeit, ehrenamtliche Arbeit). Interessant an diesen Umfragen war, dass 60 % der Befragten meinten, sie würden auch arbeiten, wenn sie nicht auf ein Einkommen angewiesen wären, aber 80% gingen davon aus, dass ein Großteil der Menschen nicht mehr arbeiten würde, wenn sein Lebensunterhalt anderweitig gesichert sei.
Thea meinte, dass sie das Problem in der Verteilung der Arbeit sehe. Sie könne sich vorstellen, dass Leute in kreativen Berufen, Künstler, Wissenschaftler, auch einige Handwerker und Angehörige sozialer Berufe vielleicht auch ohne materiellen Druck weitermachen würden, aber dass es auch Arbeiten gäbe, von denen sie sich nicht vorstellen könne, dass diese jemand sich freiwillig wählen würde. Es müsste bei einem bedingungslosen Grundeinkommen Vorsorge getroffen werden, dass diese trotzdem erledigt würden, jedenfalls wenn sie für das Funktionieren der Gesellschaft nötig seien. Das könne eventuell auch dadurch geschehen, dass jeder verpflichtet würde, sich zeitweilig für diese Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen.
Ein weiterer Teilnehmer pflichtete ihr insofern bei, als er meinte, Statistiken und Umfragen seien immer mit Vorsicht zu betrachten, z.B. sei nicht gesagt, dass die Leute, die meinten, sie würden auch bei gesichertem Lebensunterhalt weiterarbeiten, dies auch in demselben Beruf tun wollten wie bisher.
Dann kam die Frage auf, wie denn das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens aussehe. Gedacht ist bei den Befürwortern an eine Summe zwischen 800 und 1000 Euro, die jedem Bürger völlig ohne Vorbedingungen und Gegenleistungen auszuzahlen sei. Thorolf fragte, ob dies Grundeinkommen auch Kinder erhalten sollten. Wenn ja, brauchten Leute nur fleißig Kinder in die Welt setzen, um ein beachtliches Einkommen zu erreichen.
Weitere Teilnehmer wollten wissen, wie sich die Befürworter dieses Modells denn die Finanzierung vorstellten.
Ein Teilnehmer war offensichtlich besonders informiert und erläuterte, es gebe zur Finanzierung drei Modelle.
1. das Grundeinkommen solle über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden.
2. es soll über höhere Steuern bzw. eine Versicherungspflicht für alle finanziert werden
3. Die Betriebe, die dann voraussichtlich im Schnitt niedrigere Gehälter als bisher zahlen brauchten, sollten das Ersparte in einer Form zur Finanzierung des Grundeinkommens bereit stellen.
Dieser Teilnehmer bevorzugte die dritte Lösung, da sie am behutsamsten bei der Änderung des bisherigen - immerhin funktionsfähigen - Systems vorgehe. Auch könne er sich die Einführung eines Grundeinkommens nur so vorstellen, dass diejenigen, die ohnehin schon mehr als das Grundeinkommen erhielten, mit Gehalt und Grundeinkommen auf den bisherigen Stand kämen. Wenn das Grundeinkommen da noch oben drauf käme, wäre das in der Tat nicht finanzierbar, bzw. müsste zu einer Inflation führen.
Eine Teilnehmerin bezweifelte, dass es eine gute Idee sei, das Grundeinkommen bedingungslos zu gewähren. Dies würde die Eigeninitiative lähmen und auch nicht zum sinnvollen Gebrauch des Geldes anregen. Ihr Sohn hätte als Entwicklungshelfer in Afrika die Erfahrung gemacht, dass am wirkungsvollsten Projekte seien, bei denen die Nutznießer etwas beitragen mussten. Was einfach geschenkt werde, werde nicht wertgeschätzt.
Thomas Mäder führte in diesem Zusammenhang die Studie über Marienthal an, wonach Menschen in der Arbeitslosigkeit ihre Dynamik und ihre Einsatzbereitschaft auch im Freizeitbereich verloren.
Daraufhin fragte Thea, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn man den Staat verpflichte, in einer Art zweitem Arbeitsmarkt, jedem Bürger, der darum ersuche, eine Arbeit zu geben, die von ihm leistbar sei, mit der er dieses Grundeinkommen erzielen könne. Allerdings müsse man sich gut überlegen, wie dies Gesetz zu formulieren sei, damit es nicht dazu führe, dass diesen Menschen grundsätzlich alle unbeliebten Arbeiten aufgehalst würden und das dazu noch mit einer denkbar geringen Vergütung. Man müsse vielleicht den von Arbeitslosigkeit Betroffenen mehr geben als nur Geld. Doch dieser Gedanke stieß im Publikum auf wenig Gegenliebe. Vor allem wohl, da die Gefahr, die angesprochen wurde, als sehr hoch angesehen wurde und der Einzelne damit noch mehr der staatlichen Bevormundung ausgesetzt sei als jetzt schon der Hartz-4 Empfänger.
Wolfram Ette hatte aus ganz anderen Gründen Vorbehalte gegen eine Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
- es führe zu einer Infantilisierung der Gesellschaft
- schon jetzt ginge die Effizienz unserer Wirtschaft zu Lasten anderer in der dritten Welt; angesichts ihrer Not sei das bedingungslose Grundeinkommen ein nicht vertretbarer Luxus
- es dehne das Prinzip des Lean-Management auf die gesamte Gesellschaft aus; wer nicht wirtschaftlich gebraucht werde, könne dann mit gutem Gewissen ausgegrenzt werden.
- es setze zu kurz an, da es nur eine marginale Veränderung der Wirtschaft sei, bei der Gesellschaft ansonsten bliebe, wie sie ist; ein Anreiz, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern, was seiner Meinung nach nötig wäre, entfiele damit.
Zum letzten Teil wandte ein anderer Teilnehmer ein, dass es durchaus möglich sei, dass eine Veränderung an einem Punkt, weitere Veränderungen in der Gesellschaft nach sich ziehe.
Ein weiterer Teilnehmer meinte zum zweiten Einwand, dass im Grunde die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen auf globale Verwirklichung zielen müsste. Die Frage sei allenfalls, ob ein einzelner Staat sinnvoll damit vorpreschen könne, um zu erweisen, dass es machbar sei.
Da sich im Gespräch doch sehr viel Skepsis zeigte, sah sich Bruno veranlasst, am Schluss noch einmal die positiven Möglichkeiten des bedingungslosen Grundeinkommens zusammenzufassen: Bestechend an der Idee sei vor allem die Freiheit, die es dem einzelnen biete, sich die Art seiner Tätigkeit ohne Existenzangst selbst auszusuchen bis hin zur Untätigkeit. Der Preis für eine hohe Präferenz für Selbstverwirklichung sei dann u. U. Konsumverzicht.
Ziemlich einig waren sich die Versammelten darin, dass es einen engen Zusammenhang zum Menschenbild gibt. Wer daran glaubt, dass der Mensch von sich aus tätig sein will, wird eher dazu neigen, das bedingungslose Grundeinkommen zu befürworten, das es jedem ermöglicht, sich dort zu engagieren, wo seine Neigungen und Überzeugungen liegen und dort vielleicht glücklicher zu sein und Besseres zu leisten als in einem bloßen Brotberuf. Wer eher glaubt, dass der Mensch von Natur aus bequem ist und darüber hinaus allenfalls seinen Spaß sucht, wird befürchten, dass durch die Einführung eines gesicherten Lebensunterhalts ohne eigene Anstrengung jede wirtschaftlich effektive Kooperation zusammenbricht.