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Verzeichnis der hier und bei Amazon eingestellten Leseproben

 

 Leseproben aus der Neuerscheinung

Thea und Bruno Johannsson: Im Chaos der Möglichkeiten. Wo ist mein Weg?

 

Titel und Inhaltsverzeichnis                                                                                                      www.amazon.de

Weltanschauung - Toleranz - Gewalt                                                                                       www.amazon.de (nur teilweise,

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Flüchten oder Bleiben? Interview des Philosophenpaares mit Helmuth Müller             www.amazon.de

 

Verfügbare Leseproben aus

Bruno Johannsson: Flucht - eine globale Herausforderung. Wege im Dilemma.

 

 

Titelei und Inhaltsverzeichnis                                                                                                     www.amazon.de , Print und eBook

Vorbemerkungen                                                                                                                          www.amazon.de , Print und eBook

Literaturverzeichnis                                                                                                                      www.amazon.de , Print 

Kapitel 1.1.1. bis 1.1.2.                                                                                                                 www.amazon.de , Print und eBook

Kapitel 1.1.3. bis 1.1.5.                                                                                                                 www.amazon.de , eBook

Kapitel 2.1.1. bis 2.1.2.                                                                                                                 www.amazon.de , eBook

Kapitel 2.1.3. bis 2.1.6.                                                                                                                 hier

Kapitel 3.3.1.                                                                                                                                  hier

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             


Leseprobe aus Thea und Bruno Johannsson: Im Chaos der Möglichkeiten. Wo ist mein Weg?

 

1. Dialog

Weltanschauung- Toleranz -Gewalt

 

B. Heute ist Mittwoch der 27. September 2006, und wir möchten eine neue These in Angriff nehmen, die in diesem Fall ich stelle und die wie folgt lautet:

 

Je tiefer die Überzeugung eines Menschen von einer Weltanschauung, desto größer ist die Gefahr von Intoleranz gegenüber anderen Überzeugungen und desto größer ist die Neigung, Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Überzeugung anzuwenden.

 

Es ist jetzt deine Aufgabe, diese These etwas besser zu verstehen, falls das erforderlich ist.

 

T: Kannst du mir kurz erklären, was du unter Weltanschauung verstehst?

 

B: Ich habe hier bewusst nicht den Begriff Religion gewählt, weil gerade der Zusammenhang, den ich hier beschreibe, auch auf sehr eindrucksvolle Weise nachgewiesen werden kann bei nichtreligiösen Weltanschauungen, siehe Nationalsozialismus, Kommunismus und andere.

 

T: Nun, das meine ich auch. Das heißt, hier sind bewusste Weltanschauungen gemeint, wo auch Kanons existieren, das heißt also, deren Eckpunkte sehr festgelegt sind. Ich meine, jeder Mensch hat eine Weltanschauung, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Hier geht es somit wohl nicht um irgendeine diffuse Weltsicht, die man haben kann, ohne es überhaupt zu wissen, sondern um eine ganz bewusste Sicht der Welt, die dann einen Überzeugungscharakter hat, einen ganz bewussten Überzeugungscharakter. Man weiß, zumindest in den wesentlichen Grundzügen, woran man glaubt und kann es artikulieren. Ist das Voraussetzung oder würde deine These auch für etwas diffusere Weltanschauungen zutreffen?

 

B: Du hast gerade selbst gesagt: Jeder Mensch hat eine Weltanschauung. Diese Meinung teile ich, und einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Karl R Popper, scheint diese Meinung auch geteilt zu haben. Der zuletzt über ihn erschienene Sammelband trägt den Titel „Jeder Mensch ist ein Philosoph“. Und daraus folgt schon, obwohl wir selbst das Buch noch nicht gelesen haben, aber sehr wahrscheinlich lesen werden, dass jeder Mensch eine Weltanschauung hat. Diese Weltanschauung kann aber sehr unterschiedlich bewusst sein, sie kann sehr unterschiedlich präzise sein, der Grad der Überzeugung von dieser Weltanschauung kann mehr oder weniger stark sein. Mit anderen Worten: es gibt, nach meiner Vermutung, nicht nur so viele Weltanschauungen wie es Menschen gibt, wenn man genau hinschaut, sondern diese Weltanschauungen unterscheiden sich nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in den anderen Merkmalen, die ich gerade genannt habe: Bewusstheit, Präzision, Überzeugung davon und so weiter. Alles das, was du da genannt hast, müsste man auf Skalen messen und dann eben unterschiedliche Ausprägungen von Weltanschauungen zu Grunde legen. Mir kam es hier auf zwei Merkmale von Weltanschauungen an – eigentlich sogar nur auf ein Merkmal, sehe ich jetzt gerade – nämlich auf die Tiefe der Überzeugung von der Weltanschauung.

 

T: Aha. Und meinst du, dass Präzision und Bewusstheit der Weltanschauung keine Rückwirkungen auf die Toleranz  oder Intoleranz haben?

 

B: Sicherlich könnte man sehr leicht hundert verschiedene Merkmale von Weltanschauungen herausfinden und sie dann auch klassifizieren, zumal es hier um ein geistiges Phänomen geht, etwas, was vielleicht auch im Gehirn, aber nicht nur im Gehirn, verankert ist. Von daher sind sicherlich sehr viele Merkmale anzunehmen. Aber was das Merkmal der Präzision anbelangt, kann ich mir durchaus vorstellen, dass gerade ein Fanatiker eine Weltanschauung haben kann, die bei genauer Nachfrage alles andere als präzise ist, und trotzdem ist er zutiefst von dem, was er da hat und was möglicherweise keinerlei philosophischer Prüfung standhalten würde, überzeugt.

 

T: Also du meinst, jemand tötet für seine „Überzeugung“ in Anführungsstrichen, aber wenn man ihn befragen würde, würde er selbst die Inhalte dieser Weltanschauung  gar nicht korrekt wiedergeben können?

 

B: Zum Beispiel. Wenn wir uns überlegen, wieviel Selbstmordattentäter wir im Bereich des Islam in den letzten Jahren schon hatten – angenommen es wären 500 gewesen in den verschiedenen Ländern - dann ist die Frage: Was hatten diese 500 Menschen für einen Bildungsstand? Wie gut kannten sie den Islam? Wie gut kannten sie den Koran, außer dass sie ihn auswendig konnten? Wie sehr hatten sie ihn verinnerlicht? Wie gut hatten sie ihn verstanden? Ich weiß es nicht. Das wäre eine interessante Forschung, aber die Leute sind natürlich alle tot. Man könnte -  was technisch sehr schwierig sein dürfte für die Wissenschaftler - die ganzen „Schläfer“ mal analysieren,

 

T: (lacht) Dazu müsste man sie erst mal herausfinden.

 

B: (lacht auch): die weltweit  bereit stehen. Ich vermute, es sind mehr als tausend, vielleicht mehr als zehntausend, vielleicht mehr als hunderttausend, die im Prinzip bereit sind, ein solches Opfer zu bringen. Und dann müsste man sich ansehen, was die für einen Bildungsstand haben. Ich will aber gleich hinzufügen: Da können durchaus hochintelligente und sehr gebildete Leute dabei sein. Nach dem, was ich aus den Medien entnommen habe, waren gerade die Attentäter vom 11. September doch wohl Studenten gewesen und hatten durchaus eine mehr oder weniger ausgeprägte akademische Ausbildung. Ich wollte eben nicht sagen, dass nur jemand, der intellektuell sehr schwach ausgeprägt ist, zu einer solchen Tat fähig ist, sondern vielleicht könnte sich sogar eine eher entgegengesetzte Gesetzmäßigkeit finden lassen, dass besonders intelligente Leute zu solchen Taten neigen. Das könnte auch sein.

 

T: Oder dass es Merkmale gibt, die unabhängig vom Intelligenzgrad potentielle Attentäter kennzeichnen. Aber wenn ich jetzt diese Erläuterungen höre, dann könnte man fast sagen: „Je tiefer die Überzeugung eines Menschen von überhaupt etwas ist, umso größer die Gefahr von Intoleranz gegenüber denen, die diese Überzeugung nicht teilen.

 

B: Das wäre eine weitere Verallgemeinerung der These. Ich lege Wert darauf, bei dem Begriff „Weltanschauung“ zu bleiben, weil das nun gerade besonders aktuell ist und weil es zu diesem Phänomen Terrorismus gehört, dass Menschen von etwas überzeugt sind, was nun nicht gerade ihre Gartengestaltung anbelangt oder die Art und Weise, wie sie mit ihrem Auto umgehen, sondern dass wirklich Dinge zu Grunde liegen, die von globaler Bedeutung sind, die sich  auf eine Weltanschauung beziehen, die einen großen Anspruch hat in globaler Hinsicht.

 

T: Ja, natürlich. Das stimmt. Wenn sich Intoleranz auf einen Inhalt bezieht, der sozusagen die gesamte Weltsicht umfasst, dann tritt sie leichter zu Tage, als wenn ich nur intolerant bin, meinetwegen in Fragen der Mode. Das wäre der Zusammenhang zwischen Überzeugung und Toleranz, und nun sagst du, je tiefer sie ist, desto größer die Gefahr der Intoleranz. Was ist für dich Toleranz beziehungsweise Intoleranz?

 

B: Das ist jedenfalls eine gute Frage, auf die wir sicherlich einige Zeit werden aufwenden müssen. Ich schlage vor, dass wir uns vertagen. Dann kann ich über die Frage auch mal ein bisschen nachdenken.

 

T: Gut. Bevor wir uns vertagen, will ich dir schon andeuten, in welche Richtung da meine Frage oder meine Kritik geht. Ich wäre fast bereit, die These dagegen zu setzen: „Nur ein Mensch, der von etwas überzeugt ist, kann überhaupt im klassischen, im wörtlichen Sinne tolerant sein. Denn Toleranz, das kommt ja ursprünglich von „tolere“, also „leiden, dulden“ her, und jemand, dem alles egal ist, der leidet nicht, wenn andere anders denken und ihr Handeln dann auch von diesem anderen Denken geprägt wird. Nur wer selbst eigene Überzeugungen hat, leidet darunter, wenn diese Überzeugungen das gesellschaftliche Leben nicht prägen.

 

B: Das können wir als Schlusswort gelten lassen und daran dann anknüpfen das nächste Mal.

 

 

 

B: Heute haben wir Donnerstag den 28. September 2006. Du hattest die Frage in den Raum gestellt: Was ist Toleranz? Ich muss ganz ehrlich zugeben, ich habe nicht darüber nachgedacht in der Zwischenzeit, was etwas bedauerlich ist, aber ich werde trotzdem versuchen, diese Frage zu beantworten. Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass es sich bei Toleranz um eine Einstellung handelt, die bedeutet, dass man anderen Menschen zugesteht, gemäß ihren Überzeugungen zu handeln und zu leben. Diese Einstellung ist dann besonders bemerkenswert, wie du schon angedeutet hast, wenn man selbst eine starke Überzeugung hat und wenn man ansehen muss, wie andere Menschen andere Überzeugungen haben und danach handeln.

 

T: Das ist richtig, zumal der Fall selten ist, dass die Handlungen anderer keine, überhaupt keine externen Effekte haben. Wie soll ein Tierschützer es aufnehmen, wenn meinetwegen ein anderer aus religiöser Überzeugung ein Tier auf eine Art und Weise schlachtet, die seiner Überzeugung nach Tierquälerei ist? Mit welchen Gefühlen vermag er dann Toleranz zu üben? Wird er sie überhaupt üben? Noch schwieriger wird es dann natürlich, wenn die Behandlung von Menschen auf dem Spiel steht. Aber ich möchte doch jetzt erst einmal weiter die Fragephase haben. Stimmst du mit mir darin überein, dass man, wenn man alle Überzeugungen als gleichwertig ansieht oder auf dem Standpunkt steht: „Nichts Genaues weiß man eh nicht; deswegen müssen alle das gleiche Recht haben“, dass dann eigentlich von Toleranz gar nicht mehr gesprochen werden kann? Oder würdest du sagen: „Alle gleichmäßig gelten lassen und respektieren, nicht nur dulden, das ist eigentlich die höchste und beste Form der Toleranz“?

 

B: Das wäre ja eine ganz bestimmte Weltanschauung, die möglicherweise auf einer bestimmten Erkenntnistheorie beruht, dass man sagt: „Alle Weltanschauungen, alle Überzeugungen sind letzten Endes gleichwertig.“ Jemand, der diese Auffassung hat, ist in Sachen Toleranz möglicherweise gar nicht gefordert. Außer in Bezug auf die Personen, die diese Auffassung nicht teilen, die nämlich meinen, es gibt nur eine Wahrheit, und diese eine Wahrheit muss möglichst durchgesetzt werden. Hier wird auch dieser Mensch, mit dieser Auffassung, die fast agnostizistisch ist oder jedenfalls als eine Art Variante des Agnostizismus betrachtet werden kann, hier ist auch er provoziert, weil es auch hier das Gegenteil gibt.

 

T: Stimmt! Und da fragt sich, wie sich dann diese „Toleranz“ in Anführungsstrichen bewährt. Auf jeden Fall freue ich mich, dass auch du der Meinung bist, dass eigentlich in diesem Falle die Toleranz sich gar nicht erst bewähren muss oder gar nicht erst aufgewendet werden muss. Das heißt, dass wir doch unter Toleranz nun in etwa das Gleiche verstehen, nämlich etwas erdulden, das einem unangenehm ist, um der Freiheit, der Gewissensfreiheit, der Handelsfreiheit, der Wahlfreiheit anderer willen. Das bedeutet natürlich: das wird denen umso eher gelingen, in deren Weltanschauung diese Dinge, Wahlfreiheit, Gewissen usw. Werte sind.

 

B: Das ist interessant. Du hast sozusagen einen Wertekonflikt dargestellt zwischen den Inhalten der eigenen Überzeugung, die man für wahr, die man für wichtig hält, und einem ganz besonderen speziellen Wert, nämlich der Freiheit des Menschen. Es ist durchaus vorstellbar, dass es Überzeugungen, Weltanschauungen gibt, in denen die Freiheit des Menschen keinen großen Stellenwert hat oder gar nicht vorkommt. Und gerade diese Weltanschauungen werden sich dann mit der Toleranz schwer tun, denn die sind ja durch ihr eigenes Wertesystem nicht aufgerufen zur Toleranz.

 

T: Richtig. Darauf wollte ich nämlich in einem weiteren Gespräch noch kommen, dass meiner Ansicht nach die Toleranz nicht nur von der Tiefe und Intensität der Überzeugung abhängt, sondern auch von den Inhalten der Überzeugung, die jemand hat. Aber zunächst mal wollten wir noch bei der Definition der Toleranz bleiben. Zunächst mal sind wir einig: So lange es jemandem egal ist, so lange er sagt „Alles ist gleichwertig“ hat er in einem gewissen Sinne die Toleranz noch gar nicht nötig. Toleranz wird erst dann eine Tugend oder kann überhaupt erst vorkommen und möglich werden, wenn es einen eine gewisse Überwindung kostet, den anderen „nach seiner Fasson selig werden“ zu lassen. Das scheint etwas zu sein, wo wir uns einig sind.

 

B: Ich meine, du gehst jetzt hinter das zurück, was du vorhin schon spontan zugestanden hattest, nämlich dass auch derjenige, dem alles so ziemlich egal ist, das Problem hat, mit den Leuten umzugehen, die zutiefst von etwas überzeugt sind. Also an der Toleranz kommt in diesem Sinn gar niemand vorbei.

 

T: Stimmt.

 

B: Das möchte ich hervorheben. Das war vorhin sehr einleuchtend gewesen und soll es auch bleiben: Es kommt niemand an der Toleranz vorbei. Außer –gerade fällt mir doch noch ein Fall ein -  außer die Menschen, die in einem abgeschlossenen System leben, in dem alle die gleiche Überzeugung haben. Dort ist die Toleranz gegenstandslos.

 

T: Vorausgesetzt, dass sie diese Überzeugung von innen her teilen. Sonst leiden sie nur noch. Dann ist zwar ihre Intoleranz nicht störend für die anderen, könnte sie aber selbst zerstören. Ich meine,  wenn man der einzige mit einer Überzeugung in einer Umgebung ist, in der alle anderen sich in einer anderen Überzeugung einig wären.

 

B: Ich sprach von einer überzeugungsmäßig völlig homogenen Gesellschaft; eine Art Modellvorstellung. Homogen bedeutet hier: Inhalte gleich, Tiefe gleich, alles gleich.

 

T: Das geht schon sehr weit. Es würde ja schon reichen, wenn die Inhalte wirklich gleich sind, nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern von allen geglaubt werden, wenn auch mit mehr oder weniger Intensität. Dann hast du Recht. Dann dürfte eigentlich dieser Konflikt, der Toleranz erfordert, gar nicht auftreten.

 

B: Da ich ja immer das christliche Gedankengut dazu im Blickfeld behalten möchte, fällt mir dazu gerade ein, nur als kleiner Nebengedanke, den man später vielleicht einmal aufgreifen könnte: Die himmlische Gesellschaft könnte so eine homogene Gesellschaftsordnung sein. Allerdings wissen wir sehr wenig darüber, muss man sagen. Aber meine Vorstellung davon ist schon die, dass bei Gott keine Differenzen bestehen in Sachen Überzeugung. Was die Tiefe anbelangt, da die Seelen bestimmt nicht alle gleich sind, die in einer solchen Gesellschaft des Jenseits leben, müsste man die Frage mal offen lassen.

 

T: Na ja, soweit ich die Offenbarung kenne, vermute ich, dass Nächstenliebe und Respekt vor der Freiheit anderer selbst in der himmlischen Gesellschaft gefordert sein werden, weil die sich dadurch auszeichnet, dass deren Insassen oder Bürger oder wie man es nennen will, Zugang auch zu allen anderen Welten haben, außer vielleicht den Söhnen des Verderbens, so dass sie zwar in ihrer Gesellschaft die Toleranz nicht nötig haben, aber ihr Informationsstand – sie sind nicht in sich hermetisch abgeschlossen – sondern ihr Informationsstand über andere -  ist so groß, dass sie denen gegenüber diese Einstellung nötig haben werden.

 

B: Danke für diese Ergänzung. Das stimmt auch mit meiner Sicht der Offenbarung überein. Es wird auch dort sehr viele Unterschiede geben, die ja teilweise durch neuzeitliche Offenbarung schon recht detailliert beschrieben sind. Allerdings im Vergleich zu dem, was man noch gern wüsste, ist das immer noch sehr wenig an Information, was man da hat. Aber jedenfalls wird es in der Tat so sein, dass dann die auferstandenen Wesen der höchsten Welt die unteren Welten besuchen und dann anlässlich dieser Besuche und überhaupt auch bei der Kontrolle dieser Welten durchaus gefordert sind in Sachen Toleranz.

 

 

 

T: Wir haben jetzt herausgearbeitet: eine eigene Überzeugung, ein eigenes Wollen ist Voraussetzung für Toleranz. Würdest du mir darin zustimmen, dass entweder Voraussetzung zur Toleranz oder Voraussetzung zur Feststellung ihres Vorhandenseins auch ist, dass man ein gewisses Maß an Macht hat, das Verhalten, das einem unliebsam ist, zu verhindern? Wenn ich zwar in meinem Herzen intolerant bin, aber überhaupt keine Maßnahmen habe, um andere an dem Verhalten, das ich nicht mag, zu hindern oder zu stören, dann muss ich mich zähneknirschend fügen und vielleicht gebe ich mich aus taktischen Gründen nach außen hin tolerant. Erst wenn ich die Macht hätte, es zu unterbinden, und es lasse, kann man feststellen, ob ich tatsächlich tolerant bin oder nicht.

 

B: Das ist eine sehr interessante Facette des Problems der Toleranz. Die sollten wir sicher später dann noch einmal aufgreifen, wenn es um das Thema Gewalt geht. Aber an der Stelle wäre die Frage, ob wir uns darauf einigen können, dass Toleranz nicht nur eine Frage des Handelns ist, das darin bestehen könnte, jemand anders daran zu hindern, etwas zu tun, was man nicht tolerieren möchte, sondern dass es in erster Linie oder auch eine Frage der Einstellung ist.

 

T: Das würde ich dir zugeben. Deshalb habe ich das abgeschwächt und gesagt, dass die Macht nur die Voraussetzung ist, um Toleranz eines anderen festzustellen, aber eigentlich nicht die Voraussetzung ihres Vorhandenseins.

 

B: Ich hatte ja auf deine Frage hin Toleranz definiert als Einstellung, ganz bewusst. Ich möchte das vorläufig auch so beibehalten und jetzt nur als Beispiel den Fall nennen, dass jemand ohnmächtig ist, keine Möglichkeit hat, ein bestimmtes Verhalten eines anderen Menschen, das er nicht mag, zu verhindern. Aber er leidet trotzdem darunter, das heißt: seine Intoleranz ist eine Quelle seines Unwohlseins, seines Ärgers, seines Unglücklich-seins, obwohl er selbst gar nichts tut, sondern nur zusehen muss, wie jemand anderes etwas tut.

 

 

 

T: Das ist richtig. Nur könnte man einen sehr weiten Begriff von Intoleranz haben und sagen: Immer wenn ich mich über etwas ärgere, bin ich intolerant. Aber wie ist es, wenn der auf mich zugeht und mich verprügelt, dann leide ich ja nicht nur auf Grund meiner Einstellung, sondern dann leide ich auch auf Grund der Schmerzen, die mir da beigebracht werden. Ist nun derjenige, der den anderen daran hindern will, wenn er irgend kann, intolerant oder nicht? (lacht)

 

B: Darauf möchte ich eine Antwort geben, die aber zunächst einmal als etwas humorvoll betrachtet werden  soll und die aber zugleich in Anbetracht der vorgeschrittenen Zeit das Schlusswort sein sollte: Nehmen wir einmal an, es schlägt dich jemand auf die eine Backe, dann bedeutet christliche Moral: halte ihm die andere hin. Wir wollen das mal nicht vertiefen, inwieweit uns das hier weiterbringt. Aber das nächste Mal könnten wir das dann vielleicht tun. Bist du damit einverstanden, dass wir es dabei bewenden lassen heute?

 

T: Das können wir, obwohl ich es dann nicht als Problem der Toleranz ansehen würde.

 

 

 

B: Heute ist Samstag der 30. September 2006. Wir sind bei dem Thema Toleranz, und ich hatte unser letztes Gespräch mit der als humorvoll gedachten Bemerkung geschlossen, dass man dann, wenn einem jemand einen Schlag auf die eine Backe gibt, Toleranz üben kann, indem man ihm die andere Backe hinhält.

 

T: Ich hatte, glaube ich, schon erwähnt, dass ich meine, dass man dazu mehr braucht als Toleranz, wobei ich – das ist ja immerhin ein Zitat aus der Bergpredigt – das nicht nur als humoristisch betrachten kann. Aber ich glaube, in dieser Phase sollten wir vielleicht das noch nicht aufgreifen. Ich hätte noch Fragen darüber, was du unter Gewalt verstehst.

 

B: Das knüpft unmittelbar an das an, was wir eben besprochen haben. Eine solche Ohrfeige ist ein Akt der Gewalt. In dem Moment, wo gegen den Körper einer Person vorgegangen wird, kann man auf jeden Fall von Gewalt, von physischer Gewalt, sprechen. 

 

T: Ja.

 

B: Es gibt dann sicher noch Formen psychischer Gewaltausübung und so weiter. Die können wir im Moment noch mal zurückstellen. Was uns in der heutigen Zeit besonders beschäftigt, ist die Gewalt, die von Terroristen ausgeübt wird, insbesondere den islamistischen Selbstmordattentätern, und hier geht es darum, dass ein Mensch einmal Gewalt gegen sich selbst ausübt, indem er etwas tut, was ihn selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Tode bringt, gleichzeitig aber auch ganz bewusst anstrebt, dass andere Menschen dabei zu Tode kommen oder verletzt werden.

 

T: Die Formulierung „Gewalt gegen sich selbst ausüben“ ist mir zunächst einmal etwas suspekt. Bleiben wir zunächst einmal bei der Definition: mit physischem oder existenz-bedrohendem Druck oder Maßnahmen gegen diejenigen vorgehen, die nicht so wollen, wie man selber will. Würdest du das zunächst mal als ganz grobe Definition von Gewalt gelten lassen? Es mag dann auch noch psychische Gewalt geben. Aber die ist sehr viel schwieriger fassbar, sehr viel schwieriger abzugrenzen gegen sinnvolle und legitime Beeinflussung. Bleiben wir bei der physischen Gewalt als die ganz grobe Struktur, bei der normalerweise die Menschen sich einig sind, dass man das nicht möchte, dass das dem Frieden abträglich ist und dass man ein Rechtssystem möchte, in dem das ausgeschlossen wird.

 

B: Dazu gleich eine Einschränkung. Die meisten Staaten sprechen sich selbst das Gewaltmonopol zu. Das heißt, Gewalt wird keineswegs voll ausgeschlossen, es wird nur eine Beschränkung dahingehend ausgesprochen, dass nur öffentliche Organe Gewalt ausüben dürfen.

 

T: Das ist richtig. In demokratischen Staaten kommt aber meistens noch hinzu, dass sie  auch das Menschenrecht irgendwie in ihren Verfassungen verankert haben. Das heißt, dass auch der Staat nur unter sehr bestimmten Bedingungen das Recht hat, dieses Gewaltmonopol, das er hat, auch einzusetzen.

 

B: Das ist richtig. Im großen Ganzen wird man sagen können, dass ein Gesetzesverstoß bestimmter Art vorliegen muss, wenn der Staat, repräsentiert durch die Polizei, Gewalt ausüben darf. Auch bei einem Angriff durch eine äußere Macht könnte die Armee eingesetzt werden, was auch Ausübung von Gewalt bedeutet. Mir fällt noch ein Fall ein, wo Gewalt legitimiert wird, nämlich der Fall der Notwehr.

 

T: Ja. Aber im Grunde ist in den Staaten, die die Menschenrechte achten, Voraussetzung für die Ausübung der Staatsgewalt, dass ein anderer die Gesetze bereits gebrochen hat, und in Demokratien versucht man dann auch noch durch die Gewaltenteilung zu sichern, dass der Staat sein Gewaltmonopol nicht so leicht zu anderen Zielen als dem Schutz vor Verbrechen einsetzen kann, indem man die Judikative von der Exekutive trennt.

 

B: Ist das eine ausreichende Antwort auf deine Frage nach der Definition von Gewalt?

 

T: Also wir sind uns wohl einig, dass das keineswegs eine umfassende Definition ist, aber eine Zusammenfassung der Merkmale, bei denen es ganz eindeutig ist, dass es sich um Gewalt handelt.

 

B: Man sollte sicherlich einen Unterschied machen zwischen dieser Art von physischer Gewaltausübung und dem Ausüben von andersartigem Druck oder Einfluss. Denn da ist schon eine gewisse Grenze, die man daran festmachen kann, dass gegen den Körper einer Person vorgegangen wird, was die Polizei zum Beispiel in der Form tut, dass sie jemandem einfach nur Handschellen anlegt; das ist auch eine Form von Gewalt. Da wird niemand verletzt dabei, das ist nicht unbedingt erforderlich, oder wenn jemand in Untersuchungshaft genommen wird, das ist auch eine Form von Gewalt, wobei hier noch nicht mal sicher ist, dass er gegen ein Gesetz verstoßen hat.

 

T: Das ist richtig.

 

B: Eine Form von Gewalt liegt auch vor, wenn ein Geistesgestörter, der gemeingefährlich ist, interniert wird, auch eine Form von Gewalt.

 

T: Ja. Es gibt noch ein paar andere Anforderungen, um Gewalt zu legitimieren. Wir hatten schon gesagt: Trennung von Exekutive und Judikative. Aber natürlich, selbst wenn man diesen Riegel vorgeschoben hat: Der Staat darf sein Gewaltmonopol nur einsetzen, wenn Gesetze übertreten werden, dann ist aber noch die Frage: Wie sehen diese Gesetze aus? Wozu wird jemand unter Androhung, dieser Staatsgewalt ausgesetzt zu werden, verpflichtet? Und da kann man sagen, es besteht auch immer die Gefahr, dass die Mehrheit Gesetze erlassen kann, die für die Minderheit sehr drückend werden. Ich erinnere nur an das im Moment Aktuelle: Christen in Berufung auf ihre Religion wünschen Sonntagsheiligung. Im Moment wird dagegen von bestimmten Bevölkerungsteilen Sturm gelaufen: die wollen dass das Ladenschlussgesetz geändert wird. Und wie immer der Staat sich entscheidet, ein Teil der Bevölkerung wird von dieser Entscheidung negativ berührt sein. Und die Frage, bei der Toleranz des einzelnen ist da: Achte ich schon dabei, wenn ich die Spielregeln oder die Gesetze aufstelle, darauf, dass möglichst noch viel Spielraum bleibt für den einzelnen, den er ausfüllen kann, oder möchte ich sehr viel in die Norm pressen, die ich für richtig halte, und das möglichst gesetzlich festzurren und verankern.

 

B: Kommen wir zu der These zurück! Ich glaube, die Fragephase ist in etwa beendet. Oder steht noch im Raum, was damit gemeint sein könnte, dass eine Überzeugung mehr oder weniger tief sein kann? Oder leuchtet dir das unmittelbar ein?

 

T: Das leuchtet mir unmittelbar ein. Vielleicht könnte man noch mal fragen, was bedeutet Durchsetzung der eigenen Überzeugung? Bedeutet das, die anderen nun zur gleichen Überzeugung zu bringen, oder bedeutet das nur, dass ein Regelsystem, dass das Regelsystem meiner Gesellschaft hundertprozentig auf meine Überzeugungen zugeschnitten sein soll?

 

B: Es ist sicherlich schwer, mit Gewalt eine andere Person zu der eigenen Überzeugung zu bekehren. Das dürfte kaum möglich sein. Es geht dann eher um den Zusammenhang zwischen Überzeugung einerseits und der Machtverteilung im Lande andererseits. Die Islamisten leiden offensichtlich darunter, dass die Weltordnung nicht so ist, wie sie sich es wünschen. Sie machen ja auch geltend, dass gerade die Weltherrschaft der Amerikaner etwas ist, was sie gar nicht mögen, weil sie die Amerikaner doch für besonders sündhaft und für Diener des Satans halten, und die Tatsache, dass die Amerikaner doch in hohem Maße das Weltgeschehen kontrollieren, passt ihnen nicht.

 

T: Ja.

 

B: Und deshalb gehen sie gegen die Amerikaner vor mittels solcher terroristischer Akte, weil ihnen ansonsten die militärische Macht fehlt.

 

T: Das ist richtig. Man muss bedenken, dass historisch gesehen im Islam lange Zeit, ähnlich wie es bei den Juden lange Zeit war, die religiösen Führer auch die Richter waren, die religiösen Gesetze auch die staatlich geltenden Gesetze, und selbstverständlich ist für den gläubigen Muslim das genau auch die Ordnung, wie sie sein soll und wie sie richtig ist, so schwierig sie das Zusammenleben mit Nichtmuslimen macht. Und alleine diese westliche Regelung meinetwegen Gleichbehandlung, also dass Religion, Rasse, Geschlecht und so weiter keine Rolle spielen darf bei der Vergabe von Ämtern, wäre für die Muslime schon in der Theorie alleine ein Unding. Natürlich ist es für sie klar, dass dem „Rechtgläubigen“ bestimmte Posten vorbehalten bleiben sollen, in ihren Staaten. Und nun könnte man darüber reden, wenn wir noch im Zeitalter des Nationalismus wären, ob man das nicht auch den muslimischen Staaten zugestehen sollte, aber dann fragen wir uns wiederum: Haben wir nicht auch die Rechte von Minderheiten auch in muslimischen Staaten zu schützen? Und umgekehrt ist es auch so, dass die Muslime keineswegs sagen: Aber wenn wir in die Staaten der Christen gehen, passen wir uns an. Sondern im Gegenteil: sie fühlen sich auf den Schlips getreten, wenn irgendwo im fernen Dänemark Karikaturen erscheinen, die eigentlich nur dazu gedacht waren, Schulbücher zu illustrieren, und das in einer ganz anderen Kultur. So weit ich das sehen kann, waren die eigentlich wirklich nicht dazu gedacht, den Islam lächerlich zu machen. Trotzdem fühlten sich die Muslime dann schon sehr auf den Schlips getreten. Dadurch dass  wir im Grunde jetzt  eine globalisierte Welt sind, dass durch die Medien solche Nachrichten ganz schnell Verbreitung finden – ich meine im Mittelalter wäre das völlig egal gewesen, da hätte kaum ein Muslim es je erfahren, was in Dänemark passiert – ist es so, dass die anderen Staaten wirklich Angst kriegen müssen. Wenn die Muslime die Herrschaft hätten, dann wäre es sicherlich überhaupt nichts mehr mit Toleranz.

 

 

 

B: Heute ist Dienstag der 4. Oktober, der Tag der deutschen Einheit. Trotzdem wollen wir unser philosophisches Gespräch über die Frage „Glaube – Toleranz –Gewalt“ fortsetzen. Habe ich das richtig verstanden, dass die Fragephase insoweit als abgeschlossen betrachtet werden kann, dass du im Moment keine weiteren Fragen zum Verständnis der These hast?

 

T: Das ist richtig. Dafür – wir haben ja jetzt noch einmal den Schluss von der letzten Sitzung gehört – und da wäre dann doch zu ergänzen, dass in historischer Sicht auch zum Islam ein gewisses Maß an Toleranz gehört, nämlich insbesondere gegenüber der christlichen und der jüdischen Religion, und dass es so scheint, als hätten die Muslime von vornherein eher vorgehabt, sich zu Weltherrschern zu machen. Sie möchten zwar ihre Religion zur beherrschenden in der Welt machen, aber ihre Vorstellung ist mehr, dass eben die Anhänger des Islam herrschen, dass wer einer anderen Religion anhängt dann Steuern zahlt, nicht unerhebliche, während man die eigenen Gläubigen ein bisschen von Steuern frei hält. Das hat sich nicht lange durchhalten lassen, weil die unterworfenen Völker sich dann „bekehrt“ haben, vielleicht in Anführungsstrichen, wegen der Steuern und der politischen Möglichkeiten. Das heißt: im Mittelalter war es so, dass die nicht-katholischen oder  nicht-orthodoxen Christen, also die christlichen Minderheitengruppen es unter islamischer Herrschaft besser hatten als unter einer christlichen Herrschaft anderer Spielart, weil der Islam sie zwar finanziell zur Kasse gebeten hat, aber bei den anderen Christen stand unter Umständen ihr Leben auf dem Spiel, für ihren Glauben. Das muss man dazu sagen, wenn man von der Intoleranz des Islam spricht.

 

B: Ich danke dir, dass du das etwas korrigiert hast, etwas relativiert hast. Dieser letzte Satz in unserem letzten Gespräch lautete ja: “ Wenn die Muslime die Herrschaft hätten, dann wäre es sicherlich überhaupt nichts mehr mit Toleranz.“ Zitatende. Das ist allerdings eine Verallgemeinerung, mit der man äußerst vorsichtig sein muss. Wenn wir davon ausgehen, dass es ca. 1,5 Milliarden Muslime weltweit gibt, dann ist die Vielfalt in dieser Religion sicherlich  nicht viel geringer als in der christlichen Religion. Es gibt alle Schattierungen. Es gibt sicherlich auch pazifistische Einstellungen, ohne dass ich das jetzt im Detail sagen kann.

 

T: Pazifismus im Islam, das würde mich nun wirklich überraschen!

 

B: Thea, unterbrechen gehört nicht zu den guten Sitten dieses Gesprächs.

 

T: Entschuldige.

 

B: Natürlich kenne ich die verschiedenen Richtungen im Islam nicht im Detail. Man hat so grobe Vorstellungen, Sunniten, Schiiten und einige andere Gruppierungen. Ich hatte schon die These so nebenbei aufgestellt, dass es möglicherweise so viele Weltanschauungen wie Menschen gibt. Genauso wie ich einfach behaupten würde, von den ca. 6 Milliarden Menschen ist jeder anders, keiner ist völlig gleich in körperlicher Hinsicht. Ähnlich ist wohl auch keiner völlig gleich einem anderen Menschen in geistiger Hinsicht, so dass wir eine Vielzahl von Weltanschauungen haben, auch innerhalb des Islam eine große Variationsbreite. Davon müssen wir ausgehen und sollten deshalb auch nicht verallgemeinern. Wir haben aber zweifellos eine bestimmte Gruppe innerhalb des Islam, die auch durchaus eine gewisse Bedeutung hat, die teilweise auch politische Herrschaft in einzelnen Staaten erlangt hat und die eine beträchtliche Neigung zur Intoleranz zeigt.

 

Du hast jetzt nicht nach der Problematik der Tiefe der Überzeugung gefragt. Für mich ist das der interessanteste, problematischste Teil dieser These. Wenn ich eine These aufstelle – ich weiß nicht, ob es dir dabei genauso geht – ist das immer auch so eine Art Versuchsballon. Ich bin nicht von vornherein von jedem Detail dieser These überzeugt, möchte sie einfach in den Raum stellen, um zu sehen: Hält sie? Oder inwieweit muss sie geändert werden? Und gerade das mit der Tiefe, das finde ich hier durchaus problematisch. Ich möchte vielleicht ganz kurz erläutern, wie ich das meine, um dann zu sehen, ob du damit etwas anfangen kannst. Und zwar habe ich die Vorstellung schon geäußert, dass der Mensch außer aus einem Körper auch aus einem Geist besteht. Wir hatten ein langes Gespräch über meine Vorstellung zum Geist des Menschen, und in dem Zusammenhang wollte ich meine Vorstellung über die Tiefe einer Überzeugung etwas erläutern. Ich nehme den Extremfall, nämlich dass  eine Überzeugung von einer Sache eine maximale Tiefe hat. Und das wäre im Rahmen meiner Geisttheorie der Fall, dass der ganze Geist des Menschen völlig durchdringen ist von dieser Überzeugung, dass es da keine Elemente gibt in diesem Geist, die da irgendwelche Zweifel signalisieren oder die sich aufbäumen oder die da nicht mitmachen, sondern dass der ganze Mensch voll, mit jedem Element seines Geistes, hinter dieser Aussage steht, zum Beispiel die Aussage: Allah ist Gott.

 

T: Da kommst du wieder mit den nicht messbaren Geistelementen. Ich habe gedacht, es läge auf der Hand: Wenn ein Mensch bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen um seiner Überzeugung willen, dann muss die Tiefe erheblich sein, der muss wirklich in seiner ganzen Persönlichkeit, ob die nun aus Geistelementen zusammengesetzt ist oder sonstwie, sehr durchdrungen sein von der Wahrheit dieser Sache und davon, dass es, sei es für ihn selbst, sei es für die Durchsetzung dieser Wahrheit katastrophal wäre, wenn er es sich leicht macht und eben nicht bis zum Letzten geht im Zweifelsfalle. Fazit: ob christlicher Märtyrer oder islamischer Terrorist – ich meine, was ich an islamischen Terroristen schlimm finde, ist, dass sie bereit sind, Unbeteiligte in den Tod zu ziehen – aber sicherlich muss er, wenn er auch sein eigenes Leben aufs Spiel setzt von der Richtigkeit seiner Sache zutiefst durchdrungen sein. Oder es wäre ein verkappter Selbstmord, dass jemand das Leben so bedrückend findet, dass er sowieso gern daraus scheiden würde. Das mag es auch geben, aber ich glaube, das ist bei Tätern aus Überzeugung eher selten der Fall.

 

B: Ich gebe dir Recht, dass das äußere Verhalten hier ein recht guter Indikator für Tiefe einer Überzeugung ist. Du hast schon angedeutet: kein zwingender Indikator. In diesem Zusammenhang wäre es hilfreich, wenn man sich die Psychologie des Fanatismus etwas näher ansehen würde. Ich bin jetzt nicht informiert, inwieweit die Psychologie hier schon nachhaltige Forschungsarbeit geleistet hat. Es wäre ein hoch interessantes Thema, auch im Hinblick auf die rechte Szene in europäischen Staaten. Ich könnte mir ...

 

T: Auch in der linken Szene kann so etwas auftauchen wie die Baader-Meinhoff-Gruppe gezeigt hat.

 

B: Aber wenn du das schon erwähnst, auch die linke Szene, jede Art von Nationalismus, die Basken, die Iren und andere Bevölkerungsgruppen weltweit, die aus mehr nationalistischen Motiven heraus ähnliche Opfer zu bringen bereit sind. Wie gesagt, es wäre hier interessant zu wissen, welche Geisteshaltungen sich hinter fanatischen Lebensäußerungen jeweils verbergen.

 

T: Darf ich da einen Einwand machen?

 

B: Bitte.

 

T: Bei den nationalistischen, den irischen und baskischen Terroranschlägen, das sind im Allgemeinen keine Selbstmordanschläge gewesen. Bomben und so weiter, Terroranschläge ja, aber die kämpfen normalerweise in dem Stil klassischer Guerilla-Kämpfer. Und insbesondere bei den Iren würde ich es nicht als rein religiösen Konflikt ansehen.  Wenn es nationale und soziale Komponenten hat, wenn man sagt: "Ich werde jetzt von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nach unten gedrückt und unten gehalten und will meine Lebensumstände verbessern", ist der religiöse Konflikt eher vordergründig. Bei den Iren kommt dann natürlich auch noch der religiöse Gegensatz Katholiken-Briten, das heißt Katholiken-Protestanten hinzu, aber der ist in Irland meiner Meinung nach nicht das Ausschlaggebende, es handelt sich bei Irland meiner Meinung nach mehr um den Kampf einer sozial unterdrückten Schicht. Und wenn ich damit Recht habe, dann fragt es sich: Kann man es dann noch unter die Überzeugungstäter in dem Sinne, den wir am Anfang definiert haben, subsumieren?

 

B: Zumindest ist es eine Variante, die von dem abweicht, was unter erstes Anliegen ist, nämlich dem Selbstmordattentäter, der ganz bewusst sein eigenes Leben aufs Spiel setzt und damit in islamischer Sicht eine Art Märtyrer wird, auch wenn er bei diesem Martyrium gezielt die Absicht verfolgt, andere Menschenleben zu zerstören. Ich schlage vor, dass wir diese Spielart des Terrorismus, wie sie aus politisch-sozialen Gründen auch eine Rolle spielt, im Moment mal etwas beiseitelassen. Ich habe jetzt noch das Problem, die Tiefe der Überzeugung, wie ich sie umschrieben hatte, in Einklang zu bringen mit dieser Frage, ob nicht auch eine sehr vielseitige Mischung von Motiven zu einem Verhalten führen könnte, dass jemand sein Leben einsetzt für eine Sache. Wenn wir den Faschismus betrachten, wenn wir die deutsche Spielart davon betrachten und den letzten Krieg und uns vorstellen, mit welcher Einsatzbereitschaft hier manche Soldaten gekämpft haben, zumindest in der ersten Phase dieses Krieges, da ist eben schon die Frage: Wie tief war deren nationalsozialistische Überzeugung? Oder war es mehr eine soziale Welle die sie beeinflusst hat, die sie dann veranlasst hat, entsprechend mit großem Einsatz in den ersten Kriegsjahren zu kämpfen? Wie tief war die Überzeugung? Also möchte ich auch schon ein Fragezeichen daransetzen. Ich glaube, da hat es auch sehr viele verschiedene Varianten gegeben.

 

T: Das ist natürlich immer sehr viel schwieriger zu beantworten. Wenn eine Idee gesellschaftlich auf dem aufsteigenden Ast ist, dann gibt es immer auch sehr viele Trittbrettfahrer, denen es im Grunde darauf ankommt, mit dieser Idee Karriere zu machen. Und naturgemäß setzt man sich auch für seine Karriere sehr stark ein. Wenn ich sage, „das ist die kommende Macht“ und habe selber keine sehr feste eigene Überzeugung beziehungsweise die Überzeugung ist „Man muss mit der Geschichte gehen, damit man immer an der Spitze bleibt“, dann kann man sehr wohl da mitmachen, auch engagiert mitmachen, aber im Grunde, um in der neuen Bewegung einen Platz zu bekommen, bei dem man mitgestalten kann, bei dem man eine gewisse Position hat.

 

B: Danke, dass du das Beispiel gebracht hast. Das macht es besonders anschaulich. Solche Menschen hat es sicherlich in all diesen Bewegungen, Kommunismus, Nationalsozialismus und anderen ähnlichen Bewegungen nicht nur wenige gegeben, sondern relativ viele. Und da haben wir schon das Problem. Allerdings kann man wohl sagen: Wer mit solchen Trittbrettfahrermotiven einsteigt, wird möglicherweise, wenn es darum geht, sein Leben zu opfern, sehr schnell abspringen vom Zug.

 

T: (lacht): Ja. Der wird kein Selbstmordattentäter! Der wird vielleicht ein Planer, aber der schnallt sich nicht die Minen im Gürtel um den eigenen Leib.

 

B: Da haben wir schon einen gewissen Unterschied in der Verhaltensweise. Und jetzt noch einmal zu meiner These, zu dem Kern dieser These, nachdem wir einige andere Fälle so ein kleines bisschen skizziert haben. Die Vorstellung ist die: Wenn ich von einer Sache ganz und gar überzeugt bin, total durchdringen bin, dann habe ich eine gewisse Vorstellung, wie die Realität aussehen soll, meinetwegen meiner Umwelt oder der Gesellschaft, des Staates oder der Erde, wo ich lebe. Und wenn ich ganz stark davon durchdrungen bin, dann kann ich andere Dinge nicht gut ansehen. Dann explodiere ich sozusagen, wenn ich was anderes anschauen muss, weil ich so tief von dieser Sache überzeugt bin, außer, und wir haben diesen Fall schon genannt, Bestandteil meiner Überzeugung wäre es zutiefst, dass der Mensch frei ist und dass er auch anders handeln kann, als ich es zum Beispiel für richtig halte. Wenn das nicht ganz tief verankert ist, dann führt eine Vertiefung meiner Überzeugung sehr leicht zur Intoleranz.

 

T: Das mag sein. Aber umgekehrt ist es auch so, dass wenn eben in einer Überzeugung selbst diese Notwendigkeit des Spielraums für andere verankert ist, dann ist wiederum auch die Toleranz, die Bereitschaft bestimmte Dinge, die mir überhaupt nicht passen, auszuhalten, größer, als wenn es nur diese Wischi-Waschi-Toleranz ist, „Na, ja, so lange es mich nicht stört, so lange es mich nichts angeht“. Die ist nämlich nicht sehr fundiert, wenn ich selbst betroffen bin, dann wird sich diese Art von Toleranz ganz schnell in Luft auflösen. Deshalb müsste man eigentlich sagen: Wenn ich Toleranz wirklich als Wert betrachte und festigen möchte, dann sollte ich mir nicht weniger Überzeugung oder nicht weniger tiefe Überzeugung bei den Menschen wünschen, sondern versuchen, ihnen die Überzeugung einzupflanzen, dass Toleranz ein Wert ist.

 

B: Wobei man es auch so formulieren kann, dass die Freiheit des Menschen ein Wert ist.

 

T: Richtig.

 

B: Wir haben ja jetzt eine ganz klare Beziehung hergestellt zwischen der weltanschaulichen Überzeugung, dass der Mensch frei ist, und einem toleranten Verhalten.

 

T: Ich glaube, es wäre besser, das etwas abstrakter zu formulieren, die Inhalte der Toleranz fördernden Überzeugung noch nicht so festzulegen. Zur Toleranz führen meiner Ansicht die Vorstellungen a) dass alle Menschen gleichwertig sind und deshalb jeder Mensch ein Recht hat, auch eigene Vorstellungen einzubringen und zu verwirklichen und b) dass der Mensch moralisch entwicklungsfähig ist und dass moralisch nur das zählt, was er in Freiheit tut. Wenn ich sage, es kommt nicht darauf an, ob er das, was er tut, auch will, die Hauptsache ist, er tut das Richtige, dann bin ich natürlich auch geneigt, ihn zu zwingen. Aber wenn ich sage, moralisch relevant ist nur und kann ihm nur angerechnet werden und kann ihn auch nur vorwärts bringen, was er aus eigenem Willen tut, dann werde ich sagen: Um dieser Chance der eigenen Einsicht willen, muss ich eben auch Raum lassen dafür, dass er das Falsche tut.

 

B: Das ist so weit richtig. Ich überlege gerade, ob ich meine These in dieser Richtung etwas ergänzen könnte oder müsste. Etwas grob formuliert könnte das auf folgende Weise geschehen: Sie lautete ursprünglich: Je tiefer die Überzeugung eines Menschen von einer Weltanschauung desto größer ist die Gefahr von Intoleranz gegenüber anderen Überzeugungen und desto größer ist die Neigung, Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Überzeugung anzuwenden.“ Ich ergänze jetzt: „Dem kann nur entgegenwirken, dass die Vorstellung von der Freiheit des Menschen wesentlicher Bestandteil dieser Überzeugung ist.“ Was hältst du von dieser Modifikation?

 

T: Die ist zumindest richtig. Denn wie gesagt: Bestimmte Überzeugungen können meiner Ansicht nach auch die Toleranz stärken statt sie zu schwächen.

 

B: Wenn wir das auf den Islam anwenden, wäre die Frage, ob das funktioniert. Ich meine, ob diese These dann so auch steht?

 

T: Dann müsste man den Islam viel besser kennen, als ich es tue, um zu wissen, um auch der Islam Elemente enthält, die die Freiheit des Menschen als Wert präsentieren, an die man anknüpfen könnte, um zu sagen: „Ihr könnt, ohne euren Glauben zu verleugnen, ja geradezu in Erfüllung eures Glaubens, tolerant sein.“ Wie gesagt, man müsste die Lehre besser kennen.

 

B: Ich wollte jetzt nicht den Versuch unternehmen, den Koran oder andere Quellen der islamischen Religion zu interpretieren, ob man dort Ansätze findet zu dieser Freiheit. Ich wollte unabhängig davon einfach in den Raum stellen: Welche Überzeugungen müssten Muslime, insbesondere auch ihre politischen Herrscher, ihre religiösen Führer äußern, egal ob sie in den Büchern enthalten sind oder nicht, und welches Verhalten müssten sie an den Tag legen, damit man sagen kann: „Jawohl, der Islam ist eine Religion mit bestimmten besonderen Überzeugungen, aber mit dieser Religion kann man zusammenleben, und sie ist auch bereit, mit anderen Religionen und Weltanschauungen zusammenzuleben.“? Und da fällt mir in diesem Fall folgendes ein: Es müsste gewährleistet sein, dass in den islamischen Staaten zum Beispiel jede andere Religion gepredigt werden darf. Das wäre das Menschenrecht auf freie Religionsausübung. Das wäre etwas, dass man fordern müsste, wenn man allen Menschen, die in diesen Staaten leben, dieses Menschenrecht zugestehen wollte.

 

T: Schwierig. Da wissen wir ja inzwischen, dass es dort die Regelung gibt: „Einmal Muslim, immer Muslim." Zwar lassen sie Andersgläubigen die Ausübung ihres Glaubens und haben es teilweise stärker zugelassen als die Christen, aber einen Muslim abzuwerben, ist ein todeswürdiges Verbrechen und vom „rechten Glauben“ wieder weggehen wollen, ist auch ein todeswürdiges Verbrechen. Das haben wir ja inzwischen erfahren. Trotzdem: ich finde, wir sollten nicht nur auf die Muslime gucken und den Islam. Man muss leider sagen, die christliche Kirche, die in der Lehre von der Nächstenliebe ja alle Voraussetzungen gehabt hätte, Toleranz als Wert zu predigen, hat sie in ihrer Geschichte auch nicht verwirklicht, nicht einmal als Wert emporgehoben, sondern hat so etwas wie die Inquisition hervorgebracht, und die Toleranz ist erst durch die weltliche Aufklärung nach Europa gekommen und hat sich etabliert. Das muss man leider sagen.

 

B: Ich wage es doch noch mal, beim Islam zu bleiben. Genau das ist es, was möglicherweise in den islamischen Staaten passieren müsste, nämlich eine Säkularisierung, damit sozusagen die sozialen Bedingungen so gestaltet sind, dass der Mensch frei wählen kann. Der andere Fall wäre der, dass man sagt: Wer nicht bei uns leben will, soll auswandern. Zumindest diese Möglichkeit müsste eröffnet werden, ohne ihn dann zu verfolgen, weil er sich vom Islam abgewandt hat, wie du sagtest ein „todeswürdiges Verbrechen“. Hier stoßen wir möglicherweise an sehr tief liegende Grenzen der Toleranz, die wie wir ja gesehen haben, sehr eng korreliert ist mit der Freiheit des Menschen und dem Menschenrecht auf freie Ausübung seiner Weltanschauung. Ich verwende jetzt mal nicht das Wort Religion, ich verwende mal das Wort Weltanschauung.

 

T: Ich hatte schon das Beispiel gebracht mit dem geschächteten Fleisch, also diese bestimmte Art zu schlachten. Ich meine, ich bin gar nicht mal sicher, ob, wenn ein Tierschützer das beobachtet und entsetzt ist, er nicht genauso entsetzt sein müsste, wenn er in einen normalen europäischen Schlachthof ginge. Ob es da nun so viel besser ist? Aber angenommen es wäre so, angenommen wir würden die Tiere, die wir essen, auf humane, weniger schmerzhafte Weise zu Tode bringen als nach diesen religiösen Ritualvorschriften der Juden und Muslime. Dann ist die Frage: „Bin ich bereit, die Tiere dem auszusetzen?“ Und was wäre, wenn jemand eine Religion hätte, eine feste religiöse Überzeugung und Weltanschauung, die ihn dazu führt, Kinder zu opfern, Menschenopfer zu bringen, wie es etwa bei den Azteken der Fall war? Spätestens da würde es doch aufhören. Man kann nicht alles tolerieren. Toleranz, das ist nie die Frage: Ja oder Nein, sondern: Wie weit gehe ich? Wie weit lasse ich den anderen Spielraum? Und irgendwo kommen dann Grenzen, wo ich sage: Also da geht es mir doch so ans Eingemachte, da werde ich mit allem, was ich habe, versuchen, dagegen zu arbeiten, dass der andere diese Freiheit hat und das auch noch ohne Angst ausüben kann.

 

B: Du hast die Grenzen der Toleranz hier aufgezeigt. Ich habe vorher versucht, deutlich zu machen, wie schwer es möglicherweise sein wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit dem Islam eine tolerante Koexistenz zu gestalten. Ich möchte aber jetzt auf die These zurückkommen, die ja all diese Themen, die wir am Schluss aufgegriffen haben, nicht mehr abdeckt, und möchte fragen, ob du sie in der modifizierten Form, in der die Freiheit dann noch ins Spiel gebracht wird, so in etwa akzeptieren kannst, oder ob wir sie dann noch weiter diskutieren müssen.

 

T: Ich glaube, dass wir sie nicht mehr diskutieren müssen, finde aber wichtig, dass wir eben auch festgestellt haben: Die feste Überzeugung kann, je nach den Inhalten der Überzeugung, auch eine Stütze der Toleranz sein, nicht nur eine Gefährdung.

 

B: Insbesondere die tief verankerte Überzeugung von der Freiheit des Menschen.

 

T: Das hattest du schon gesagt. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob das der einzige Punkt ist für die Toleranz. Deshalb habe ich gesagt, „je nach den Inhalten der Überzeugung.“ Das ist halt formaler. Ob es dann allein die Freiheit ist, oder ob man nicht auch bei Annahme der Freiheit noch sagen kann: „Na ja, aber dann müssen wir doch die Bösen vernichten.“ Die haben es auch noch frei gewählt, ihr schlechtes Tun. Ich weiß nicht, ob das allein das Kriterium sein sollte.

 

B: Lassen wir diese Frage offen und schließen wir dieses Thema ab!

 

 

 

Leseprobe aus Bruno  Johannsson: Flucht - eine globale Herausforderung

Teil 2

Eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft

 

2.1.3. Wirtschaftliche Kapazität und moralische Bereitschaft

 

Die wirtschaftliche Kapazität zahlreicher Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen ist um ein Vielfaches höher als die moralische Bereitschaft der Bevölkerungen. Umgekehrt gibt es Länder, in denen einzelne Bürger und Bürgerinitiativen insgesamt mehr Flüchtlinge aufnehmen würden als ihnen die jeweilige Regierung ermöglicht.

 

Als Angela Merkel den mitunter zustimmend, mitunter spöttisch zitierten Satz ‚Wir schaffen das‘ äußerte, dachte sie wahrscheinlich mehr an die wirtschaftliche als an die moralische Kapazität Deutschlands.[1] Ca. 800.000 Flüchtlinge[2] aufzunehmen und den harten Kern der daraus hervorgehenden Asylanten zu integrieren ist auch wirtschaftlich kein Pappenstiel, aber bis jetzt deutet alles darauf hin, dass es  machbar ist. Was die moralische Bereitschaft der Bevölkerung zur Aufnahme einer so großen Zahl von Flüchtlingen betrifft, so hat der dramatische Rechtsruck in der politischen Landschaft Deutschlands bis September 2016 ein deutliches Signal gesetzt. Eine derart liberale Flüchtlingspolitik war wohl schon im Frühjahr 2016 in der Bevölkerung nicht mehr mehrheitsfähig, wie diverse Umfragen zeigen. Regierung und Parlament haben auf diesen Stimmungswandel außenpolitisch mit dem Türkei-Deal und innenpolitisch mit einer Verschärfung des Asyl-, Integrations- und Sexualstrafrechts reagiert. Die moralische Kapazität der Bevölkerung zur Aufnahme von Flüchtlingen war wohl überstrapaziert worden. Wegen des repräsentativen Charakters der deutschen Demokratie schlägt sich dies nur langsam im Regierungshandeln nieder.

 

Betrachten wir den wesentlich dramatischeren Fall des Libanon, wo bei einer Einwohnerzahl von rund 6 Millionen schon im Frühjahr 2015 deutlich mehr als. 1 Million Flüchtlinge angekommen waren. Andrea Böhm hat die vorliegende Fragestellung in einem Artikel in Die Zeit auf den Punkt gebracht, wenn sie formuliert: „Was hält ein Land aus?“ Auch im Libanon gibt es erhebliche Probleme und Widerstände. Über 20 Prozent Flüchtlinge prägen dort das öffentliche Leben ungleich stärker als in Deutschland. Die Verhältnisse sind viel weniger unter Kontrolle, die Versorgung bewegt sich auf unterstem Niveau. Trotzdem fasst Andrea Böhm ihren Eindruck dahingehend zusammen, dass man irgendwie damit zurechtkomme. Als einen möglichen Grund führt sie einen gewissen Gewöhnungseffekt an, der sich nach Jahren einer im Prinzip unveränderten Situation eingestellt haben mag.[3]

 

Welchen Schluss soll man aus der Lage im Libanon ziehen? Hat das Land jahrelang mehr als einen Flüchtling pro fünf Einwohner wirtschaftlich und moralisch letztlich verkraftet? Man könnte dagegen einwenden, dass der libanesische Staat ja nicht sehr viel für die Flüchtlinge getan hat. Immerhin hat er es zugelassen, dass Lager gebaut wurden und dass Flüchtlinge Land zum Wohnen pachten konnten. Würde es die internationalen Hilfsorganisationen nicht geben, wäre die Not in den Flüchtlingslagern erheblich größer, möglicherweise gäbe es Hungertode. Eine systematische Integration findet kaum statt. Die moralische Einstellung der Bevölkerung ist schwer einzuschätzen, da sie wenige Artikulationsmöglichkeiten hat. Immerhin gibt es auch Gewalttätigkeit gegenüber Flüchtlingen. Das Ausmaß bleibt jedoch im Dunkeln. Illegale Arbeit von Flüchtlingen ist weit verbreitet, sodass Einheimische auch unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen aus der Anwesenheit von Flüchtlingen ziehen.

 

Wie schon in der These angedeutet, macht es Sinn, zwischen der wirtschaftlichen Kapazität und der moralischen Bereitschaft eines Landes zu unterscheiden. Ich möchte das wirtschaftliche Potential zunächst getrennt betrachten. Welche Maßstäbe soll man anlegen, um die wirtschaftliche Kapazität eines Landes zur Aufnahme von Flüchtlingen zu beurteilen? Dazu ein kurzer Abstecher in den Bereich individuellen Verhaltens, der ja Gegenstand des ersten Abschnitts dieses Buches ist. Hier hatten wir in dem Kapitel ‚Anhalten oder vorübergehen‘ als Extremfall das Verhalten einer Person betrachtet, die ihr ganzes Leben der Flüchtlingshilfe widmet. In  Ermangelung einer namentlich bekannten Person hatten wir Mutter Teresa als Beispiel aus der Armenhilfe in Kalkutta genommen. Sie hat wie viele andere vorgelebt, wie groß die Fähigkeit eines Menschen ist, anderen zu helfen, indem sie diese Kapazität voll ausgelastet hat. Ich wage es, dieses individualethische Beispiel auf eine ganze Gesellschaft zu übertragen. Im Prinzip ist es denkbar und machbar, dass sich eine ganze Gesellschaft der Flüchtlingshilfe widmet. Ihr wirtschaftliches Zielsystem wäre dann nicht Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität, angemessenes Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, hohe Umweltqualität und/oder gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung sondern in erster Linie Maximierung der wirtschaftlichen Flüchtlingshilfe. Insoweit die vorher genannten Ziele diesem Oberziel dienlich sind, kämen sie als Unterziele in Frage. Beispielsweise kann die Flüchtlingshilfe eines Landes nur dann maximal sein, wenn jedes arbeitsfähige Mitglied der Gesellschaft auch „vollbeschäftigt“ ist, d. h. mit seiner ganzen Kraft und Zeit eingesetzt wird. In einer solchen Wirtschaft gäbe es auch Konsum und Investition, Marktprozesse mit Preisbildung usw. Alle normalen Alltagsprobleme wie Kindererziehung, Ausbildung, Gesundheitswesen, Umweltschutz usw. müssten weiterhin gelöst werden. Die Besonderheit bestünde darin, dass man alle Teilprozesse einer Volkswirtschaft daran ausrichten würde, dass die Flüchtlingshilfe der Gesellschaft möglichst groß ist. Die Wirtschaftssubjekte in diesem System hätten sich darauf verabredet, letztlich nicht egoistisch zu handeln, sondern ihre wirtschaftlichen Aktivitäten an einem maximalen Beitrag zur Flüchtlingshilfe zu orientieren. Was jeder einzelne darunter versteht, kann sehr unterschiedlich sein. Spätestens an dieser Stelle würden die Probleme anfangen, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen muss, da es sich nur um ein kleines Denkmodell handelt.

 

Sicherlich kann man sagen, dass es eine solche Wirtschaft weltweit nicht gibt und in absehbarer Zeit nicht geben wird. Der utopische Charakter eines solchen Wirtschaftssystems beruht jedoch weniger auf der Unmöglichkeit, das oben genannte Zielsystem rein wirtschaftlich zu realisieren, als vielmehr darauf, dass es kaum eine Gesellschaft geben wird, die sich ein solches Zielsystem setzt. Damit sind wir bei dem zweiten Teil obiger These, nämlich der moralischen Bereitschaft der Bevölkerung des jeweiligen Landes.[4] Sie ist der eigentliche Engpassfaktor in der weltweiten Flüchtlingshilfe. Sie hat auch letztlich dazu geführt, dass Europa seine Grenzen im Verlauf der Krise 2015/16 immer mehr geschlossen hat. Selbst liberale Staaten wie Schweden, Deutschland und Österreich konnten ihre ursprüngliche Flüchtlingspolitik nicht durchhalten. In dem genannten individualethischen Abschnitt „Anhalten oder vorübergehen“ haben wir versucht, auch skeptische bis ablehnende Haltungen gegenüber Flüchtlingen verständlich zu machen. In der genannten Krise überlagert sich allerdings das natürliche Eigeninteresse der Bürger in beträchtlichem Umfang mit Islamophobie und Terrorangst. (Vgl. Frage 1). Es bedarf schon einer sehr starken Empathie und Opferbereitschaft um unter diesen politischen Rahmenbedingungen die Aufnahme und Integration von hunderttausenden Muslimen zu befürworten oder gar aktiv zu unterstützen. Aus USA, den Niederlanden und anderen Staaten kommen eher Vorschläge, das eigene Land für Muslime dicht zu machen.[5] Da die meisten europäischen Demokratien repräsentativen Charakter haben, wird sich die längerfristige Reaktion der Bürger erst mit zeitlicher Verzögerung in den nächsten Wahlen niederschlagen. Bedenkt man, dass das Votum zum EU-Austritt Großbritanniens mit ca. 55 %  relativ knapp ausgefallen ist, ist die die Vermutung nicht abwegig, dass ohne die Flüchtlingskrise das United Kingdom in der EU verblieben wäre (vgl. Frage 2).

 

Offene Fragen

1 .In welchem Umfang haben Islamophobie und Terrorangst die Einstellungen der Bevölkerungen in den europäischen Ländern in der Flüchtlingskrise 2015/16 beeinflusst?

2. Welchen Einfluss hat die Flüchtlingskrise 2015/16 auf das Brexit Votum vom Juni 2016 gehabt.

 

 

2.1.4. Totale Öffnung

 

Die völlige Öffnung eines Landes gegenüber Flüchtlingen jeglicher Herkunft ist internationales Recht. Sie kann jedoch die moralische Kapazität einer Bevölkerung überfordern, einen erheblichen politischen Rechtsruck bewirken und damit kurz- oder mittelfristig ins andere Extrem umschlagen. Langfristig ist damit auch den Flüchtlingen, die angekommen oder unterwegs sind, nicht gedient.

 

Wir hatten gerade eine Kapazitätsbetrachtung für ein Land angestellt, nach der wirtschaftlich gesehen z. B. Deutschland zwanzig und mehr Millionen Flüchtlinge aufnehmen könnte. Würde eine Regierung so etwas beschließen, so müsste sie mit einem innenpolitischen Chaos rechnen. Die Bevölkerungen der meisten Staaten sind nicht bereit, die wirtschaftliche Kapazität ihres Landes auf diese Weise zu nutzen. Rechtlich steht die brisante Frage im Raum, ob nicht die Genfer Flüchtlingskonvention mit allen ihr nachfolgenden Dokumenten sowie auch das daran orientierte europäische Flüchtlingsrecht eine solche totale Öffnung implizieren. Sie bedeutet anders formuliert, dass ein Unterzeichnerstaat keine Obergrenze  für die Zahl der in einer Periode aufzunehmenden Flüchtlinge festlegen darf. Genau dies war in der Krise 2015/16 der Standpunkt der deutschen Regierung und des deutschen Parlamentes, während der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr gefordert hatte.

 

 Mit der soeben beschriebenen Rechtslage ist nicht etwa die im 1. Abschnitt diskutierte Einladung von Angela Merkel an syrische Flüchtlinge gerechtfertigt, nach Deutschland zu kommen. Aber Flüchtlinge, die einmal an der Grenze angekommen waren, durften nicht ohne Verfahren abgewiesen werden. Das politische Chaos in Deutschland und Europa, ausgelöst durch möglicherweise mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten bis Ende 2016, wurde nur durch den Bau der Mauern in der Türkei, Mazedonien und Ungarn verhindert. Auch der Türkei-Deal vom März 2016 beruhte letztlich darauf. Wir müssen konstatieren, dass die Unterzeichnerstaaten der internationalen Flüchtlingsabkommen bis hin zu den Dublin-Verordnungen ein solches Chaos rechtlich sanktioniert haben. Dies ist möglicherweise nur teilweise bewusst geschehen. Teilweise hat man wohl einfach nicht mit so großen Flüchtlingszahlen gerechnet und/oder die Widerstände in den Bevölkerungen völlig unterschätzt (vgl. Frage 1). Weiterhin hat man den Fall nur teilweise berücksichtigt, dass eine bestimmte Flüchtlingspopulation eine starke Präferenz für ein bestimmtes Aufnahmeland  bzw. -gebiet entwickelt.

 

Wie muss man die konsequente Umsetzung der geltenden internationalen Rechtslage für einen Unterzeichnerstaat langfristig beurteilen, wenn man den Fall großer Flüchtlingszahlen für ein oder mehrere potentielle Aufnahmeländer einbeziehen möchte? Wie bereits dargelegt, wird sich der jeweils  betroffene Staat schwer tun, nachzuweisen, dass seine wirtschaftliche Kapazität erschöpft sei, zumal wenn man die oben dargelegte radikale Abgrenzung gelten lässt. Ein ganz anderer Gesichtspunkt ist die Bereitschaft der Bevölkerung eines Landes, die internationalen Verpflichtungen zu akzeptieren, die eine frühere Regierung - evtl. vor Jahren - eingegangen ist. Wie die Krise 2015/16 gezeigt hat, führen große Flüchtlingszahlen zu massiven Widerständen in der Bevölkerung, die sich bei den nächsten Wahlen in einem deutlichen Rechtsruck ausdrücken können. Dieser kann auf unterschiedliche Weise die Stabilität von Demokratien beeinträchtigen. Eine Möglichkeit ist der Niedergang der Volksparteien, wie er sich 2016 in Deutschland abzeichnet. Koalitionen im Vielparteiensystem kommen schwieriger zustande und sind meist weniger stabil. Im Extremfall ist die Folge ein Regierungswechsel, der zu einer Politik führt, die entweder die internationalen Verpflichtungen ignoriert oder sich aus ihnen zurückzieht. Möglicherweise wird die Behandlung der im Land schon angekommenen Flüchtlinge verschlechtert und die Grenzen für neue werden dicht gemacht. (Vgl. Frage 2). Alles das haben wir bereits bis Mitte 2016 in der akuten Krise in den verschiedensten Varianten in Europa erlebt. Sozialethisch bedeutet dies, dass die kurzfristige Realisierung absoluter Flüchtlings- und Asylbewerberrechte durch ein Land mittel- und langfristig dazu führt, dass diese Personengruppe durch dieses Land de facto auf einem sehr viel niedrigeren Niveau behandelt wird als dies vielleicht möglich gewesen wäre, wenn man von vornherein eine moderatere Lösung im Einklang mit der Bevölkerung angestrebt hätte.

 

In diesem Zusammenhang ist das Begriffspaar Gesinnungs- und Verantwortungsethik relevant, das wir u. a. Max Weber verdanken.[6] Der radikale Gesinnungsethiker verfolgt seinen Grundsatz – hier ein unbegrenztes Flüchtlings- und Asylrecht – auch dann, wenn er damit das eigenen Land in ein innenpolitisches Chaos stürzt, selbst bei nächster Gelegenheit abgewählt und durch einen Extremisten der anderen Seite ersetzt wird mit der Folge, dass mittel- und langfristig nur die rechte Szene profitiert. Alle anderen, insbesondere die Flüchtlinge, die angekommen oder unterwegs sind, erleiden Schaden. Der Verantwortungsethiker würde von vornherein langfristig denken und den optimalen Kompromiss zwischen den verschiedenen involvierten Werten suchen: Wohl der Flüchtlinge, innerer Frieden der Gesellschaft, Solidarität beteiligter Aufnahmeländer, langfristige Wohlfahrt der Herkunftsländer. Der Verantwortungsethiker scheint hier derjenige zu sein, der rational handelt, indem er die Wohlfahrt aller Beteiligten maximieren möchte. Der Gesinnungsethiker erscheint eher wie ein Fanatiker, der ohne Rücksicht auf Verluste einen einzigen Grundsatz verfolgt. In Bezug auf die langfristigen Folgen huldigt er dem Grundsatz ‚nach mir die Sintflut‘. Von den Teilen der Öffentlichkeit, die so denken wie er, wird er aber als ein grundsatztreuer, ethisch herausragender Politiker angesehen, den man gern auf der Kandidatenliste für den Friedensnobelpreis sehen möchte.

 

Das Fatale scheint zu sein, dass sich die Unterzeichnerstaaten der internationalen Dokumente die legale Möglichkeit zu verantwortungsethischem Handeln verbaut haben. Im dritten Abschnitt dieses Buches muss deshalb darüber nachgedacht werden, in welcher Weise die internationalen Dokumente zu ändern sind, um gleichzeitig rationales und legales Handeln auf nationaler Ebene zu ermöglichen.

 

Offene Fragen

1. Waren sich die Unterzeichnerstaaten der internationalen Flüchtlingsabkommen der dramatischen Konsequenzen bei extrem hohen Flüchtlingszahlen bewusst?

2. In welchem Umfang haben die Flüchtlingsströme 2015/16 einen Rechtsruck in Europa begünstigt und die Stabilität von EU-Staaten bzw. der gesamten EU beeinträchtigt

3. Lässt sich der Dualismus von Gesinnungs- und Verantwortungsethik mit dem in diesem Buch benutzten kombinierten Liebes-Nutzen-Konzept überwinden?

 

2.1.5. Obergrenze und Kontingent

 

Eine Obergrenze für die aufzunehmende Zahl von Flüchtlingen mag gegen manche Asylrechtsauffassungen und -regelungen verstoßen, respektiert aber die karitative Souveränität einer Bevölkerung besonders gut. Eine Kontingentregelung kommt als Alternative in Frage ist aber weniger operabel bei der mittelfristigen Manifestation des Volkswillens.

 

Wie bereits angedeutet, verstoßen die in diesem Kapitel diskutierten Regelungen ‚Obergrenze und/oder Kontingent‘ sehr wahrscheinlich gegen geltendes internationales Flüchtlingsrecht. Dies soll uns an dieser Stelle jedoch nicht hindern, darüber aus der Perspektive der Gesellschaft eines Staates nachzudenken. Schließlich ist auch internationales Recht nicht sakrosankt und möglicherweise verbesserungsbedürftig. Die Vorschläge dazu, die wie erwähnt erst im 3. Abschnitt erfolgen, wurden bereits im ersten und werden weiterhin in diesem Abschnitt vorbereitet.

 

Zu diesem Zweck kehren wir noch einmal kurz zu einer individualethischen Überlegung zurück, die bereits ausführlich erörtert wurde. Es handelt sich um den Gedanken, dass jeder Mensch die Freiheit haben sollte, selbst festzulegen, in welchem Umfang er karitativ tätig sein möchte. Dies betrifft sowohl sein Engagement in Form von Sach- und Geldspenden als auch seinen Einsatz von Zeit, Kraft, Gesundheit, Leben usw. Ich vermute, über diese Selbstbestimmung des Individuums in karitativen Angelegenheiten besteht ein weit gehender Konsens unter Philosophen, Theologen, Wissenschaftlern, Politikern und Bürgern. Geht dieser Konsens nicht so weit, dass er auch den Fall impliziert, dass im weiteren Umfeld, also z. B: in einem anderen Staat der Erde, große Not herrscht, die man z. B. durch finanzielle Spenden lindern könnte? Wir freuen uns in so einem Fall über die Spendenbereitschaft der Bürger, aber wir meinen nicht, dass sie dazu gezwungen werden sollten oder sich gar zu einer Hilfe vorab vertraglich verpflichten  sollten, nämlich bevor eine Not überhaupt eingetreten ist.

 

Ist es nicht eine naheliegende Konsequenz dieses evidenten Grundsatzes, dass auch ein Zusammenschluss von Individuen zu einer Gesellschaft, die einen Staat bildet, dieselbe Freiheit haben sollte, die wir jedem einzelnen Mitglied dieser Gesellschaft zubilligen? Die Unterzeichnerstaaten der internationalen Flüchtlingsdokumente scheinen eine solche Konsequenz nicht gesehen oder bewusst nicht gezogen zu haben. Sie haben durch ihre Unterschrift der Gesellschaft ihres Landes eine zeitlich und inhaltlich unbegrenzte Verpflichtung aufgebürdet. Beispielsweise haben die Unterschriften der deutschen Regierungsvertreter in den vergangenen knapp siebzig Jahren unter die internationalen Flüchtlingsdokumente bewirkt, dass jede zukünftige deutsche Gesellschaft eine unbegrenzte Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen hat, will sie sich an die Abkommen halten. Die gegenwärtige deutsche Bevölkerung ist somit durch Entscheidungen früherer Generationen gezwungen, bei entsprechendem Bedarf in unbegrenztem Umfang karitative Leistungen für Flüchtlinge zu erbringen. Individualethisch würde dies bedeuten, dass der Großvater zu seinen Lebzeiten festlegt, dass seine Enkel bestimmte karitative Leistungen in unbegrenztem Umfang zu erbringen haben und zwar nicht aus vererbten Mitteln des Großvaters, sondern aus dem, was sie selbst erwirtschaften. Der Großvater hat eine unbegrenzte karitative Hypothek auf seine Enkel mit bei Bedarf unbegrenzter Annuität gezogen.

 

Man könnte hier zu recht einwenden, dass die gegenwärtige Generation die Möglichkeit hat, aus diesem in die Vergangenheit hinein reichenden Generationenvertrag auszusteigen, indem eine früher geleistete Unterschrift annulliert wird. Dies hat bisher kein Unterzeichnerstaat getan, allerdings haben sich gleich ganze Heerscharen von Unterzeichnerstaaten nicht an das gehalten, was frühere Regierungen unterschrieben hatten. Wäre es nicht aufrichtiger, die Unterschriften zu annullieren, für eine realistischere internationale Vereinbarung einzutreten und bis zu deren Abschluss für den eigenen Staat eine solche Lösung zu implementieren?

 

Wie könnte eine solche vorläufige Regelung aussehen? Für einen Staat, der in seiner Verfassung das Asylrecht verankert hat und daran im Prinzip festhalten möchte, ohne einen Blankoscheck für unbegrenzten Zustrom von Flüchtlingen auszustellen, käme zunächst folgende Maßnahme in Frage: Zurückziehen der Unterschriften unter die zu weit gehenden internationalen Abkommen in Verbindung mit Vorschlägen für die Änderung dieser Abkommen. Da eine solche Änderung Jahre oder Jahrzehnte in Anspruch nehmen kann, bedarf es folgender kurzfristiger nationaler Verfassungsänderungen: Ergänzen des nationalen Asylrechtsparagraphen um die Einschränkung, dass das Parlament und/oder  das Volk durch eine qualifizierte Mehrheit ad hoc eine Obergrenze für die pro Periode aufzunehmenden Flüchtlinge festlegen darf. Auf diese Weise würde ein nationaler Kompromiss zwischen dem Asyl- und Flüchtlingsrecht einerseits und der Souveränität des Volkes in einer bestimmten weltpolitischen Situation andererseits geschaffen.

 

Da die Lasten der Aufnahme einer extrem großen Zahl von Flüchtlingen erfahrungsgemäß in erster Linie von den Bürgern zu tragen sind, wäre in diesem Fall eine Volksabstimmung besonders naheliegend. Einer solchen Volksabstimmung sollten intensive Informationskampagnen vorausgehen, in denen die verschiedenen wissenschaftlichen, ethischen und politischen Aspekte in entsprechender Meinungsvielfalt sachlich dargelegt werden. Wenn es zur Zustimmung einer Mehrheit zu einer bestimmten Obergrenze kommt, die die rechte Szene vermutlich trotzdem als zu hoch empfindet, können Rechtspopulisten jedenfalls nicht mehr zusammen mit ihren Anhängern behaupten: „Wir sind das Volk“. Sie sind bestenfalls eine mehr oder weniger starke Minderheit in diesem Volk. Wenn die Festlegung der Obergrenze nicht durch Volksabstimmung sondern durch das Parlament z. B. mit einer Zweidrittelmehrheit geschieht, so besteht die Gefahr, dass trotzdem die Mehrheit der Bevölkerung diese Entscheidung ablehnt, wodurch die Entfremdung zwischen politischen Institutionen und Bevölkerung neue Nahrung erhält und die karitative Souveränität des Volkes bestenfalls über den Umweg der repräsentativen Demokratie als gewahrt betrachtet werden kann.

 

Eine Obergrenze pro Jahr ist dadurch gekennzeichnet, dass sie evtl. nicht erreicht wird. In diesem Fall würde das Problem der Grenzschließung für Flüchtlinge gar nicht erst auftreten. Trotzdem sollte man sich vor der Abstimmung darüber klar werden, auf welche Weise man die Einhaltung der Obergrenze durchsetzen möchte. Genau vor einer solchen Regelung ist die von Angela Merkel geleitete deutsche Regierung in der Krise 2015/16 zurückgeschreckt, hat aber dann mehr oder weniger stillschweigend die Grenzschließungspraktiken der Türkei, Mazedoniens und Ungarns hingenommen, wodurch die deutsche Grenze massiv entlastet und der Türkei-Deal erst ermöglicht wurde. Je nach Art und Verlauf der jeweils zu schützenden Demarkationslinien dürften strenge Kontrollen bis hin zu Befestigungen unvermeidbar sein, sobald sich eine Überschreitung der festgelegten Obergrenze für die Flüchtlingsaufnahme im Laufe eines Jahres abzeichnet. Der schwarze Peter wird dabei dem jenseits der Grenze liegenden Staat zugeschoben. Wenn dieser auch eine Obergrenze festlegt, verschiebt sich das Problem des Umgangs mit angekommenen Flüchtlingen weiter zurück in die Fluchtroute.

 

Nehmen wir an, Deutschland hätte die von Bayern vorgeschlagene Obergrenze von 200.000 im Jahr 2016 aufzunehmenden Flüchtlingen auf legale Weise durch Rücktritt von den Abkommen, Verfassungsänderung und Volkabstimmung realisiert und die zwischen der Türkei und Deutschland liegenden kleineren Staaten hätten auf gleiche Weise eine Obergrenze von z. B. jeweils 20.000 festgelegt, so wären so lange Flüchtlinge in die EU eingelassen worden, bis in all diesen Staaten die Obergrenzen erreicht gewesen wären. Das Durchwinken von Flüchtlingen nach Deutschland wäre spätestens dann in Ordnung gewesen, wenn die betroffenen Staaten ihre Obergrenze erreicht gehabt hätten, während in Deutschland noch Spielraum nach oben bestanden hätte. In dem Maße wie die EU es geschafft hätte, andere Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewegen – evtl. bei unterschiedlicher relativer Belastung der Staaten – hätte sich die Gesamtkapazität der EU zur Aufnahme von Flüchtlingen als Summe aller nationalen Obergrenzen ergeben. Hätte weiterhin jeder Staat die oben vorgeschlagene rechtliche und demokratische Prozedur verfolgt, so wäre diese EU-Obergrenze der national differenzierte Wille der EU-Bevölkerungen gewesen. Deren Souveränität zur Erbringung karitativer Leistungen wäre respektiert worden, wie wir das eigentlich jedem Individuum zugestehen wollten. Der dramatische, noch keineswegs abgeschlossene Rechtsruck in Europa wäre wahrscheinlich moderater ausgefallen. Europa hätte möglicherweise mittel- bis langfristig eine liberalere und umfangreichere Flüchtlingshilfe realisieren können als dies evtl. die Zukunft bringen wird. Den Aufnahmeländern, den Flüchtlingen und – wie ich noch zeigen werde – den Herkunftsländern wäre besser gedient gewesen.

 

Das wäre Verantwortungsethik in dem schon beschriebenen Sinn gewesen. Realisiert wurde unter deutschem Vorpreschen kurzfristig Gesinnungsethik, die sich sehr schnell – auch unter Leitung von Angela Merkel – de facto auf eine verantwortungsethische Ebene zurückzog, dabei aber die schmutzige Arbeit der Schadensbegrenzung anderen Staaten überließ, um weiterhin ihr gesinnungsethisches Credo verkünden zu können.[7] Die Frage sei erlaubt: Ist das nicht eine Form von Heuchelei?

 

Neben der Festlegung einer Obergrenze steht als weitere Alternative zur totalen Öffnung eine Kontingentlösung im Raum. Sie ist nicht so flexibel wie die Fixierung einer Obergrenze. Letztere muss im Laufe einer Periode nicht erreicht, sie kann sogar stark unterschritten werden. Das Kontingent wird einmalig fest aufgenommen, wodurch ein Land allerdings weiß, welche Aufgabe zu bewältigen ist. Es besteht kurzfristig eine größere Planungssicherheit als bei der Obergrenze. Als Zusatz für eine Asylrechtsregelung in einer Verfassung eignet sich die Obergrenze wiederum besser, weil ihre Ad-hoc-Festlegung für mehrere Perioden durch eine Volks- oder Parlamentsabstimmung einer länger dauernden Notsituation gerechter wird. Die Zahl 72.000, die im Türkei-Deal fixiert wurde und die die unter bestimmten Bedingungen in die EU aus der Türkei aufzunehmenden Asylanten betrifft, ist eine Mischung aus Obergrenze und Kontingent. Sie soll zwar schrittweise aber auf jeden Fall erreicht werden, sofern das Abkommen Bestand hat und die Notlage anhält. In Verbindung mit einem Verteilungsschlüssel für die Mitgliedstaaten der EU bedeutet die Zahl 72.000, dass sich für jedes Land ein bestimmtes aufzunehmendes Kontingent an Asylanten ergeben würde.

 

 

2.1.6. Völlige Abschottung

 

Die völlige Abschottung eines Unterzeichnerstaates der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gegenüber Flüchtlingen verstößt gegen internationales Recht. Sozialethisch bedeutet sie eine extreme Form von Sozioismus und beraubt den hilfsbereiten Teil der Bevölkerung jeglicher Möglichkeit, seiner Empathie Taten folgen zu lassen.

 

Nachdem wir in einem früheren Kapitel eine extreme Vorstellung von der wirtschaftlichen Kapazität eines Landes zur Aufnahme von Flüchtlingen in den Raum gestellt haben, wenden wir uns nun einer Gesellschaft zu, die diese Kapazität bewusst in keiner Weise in Anspruch nimmt, indem sie sich völlig gegenüber Flüchtlingen abschottet. Dies kann durch die einsame Entscheidung eines Diktators oder Monarchen oder auf demokratischem Weg geschehen. Normalerweise gibt es eine Minderheit, die eine solche Entscheidung nicht mitträgt, sich ihr aber fügen muss, soweit inländische Flüchtlingshilfe betroffen ist. Diese humanitären Opponenten haben in den meisten betroffenen Ländern die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, um irgendwo „an der Flüchtlingsfront zu kämpfen“. Damit wird ihr Opfer aber schon sehr umfangreich. Ihre Regierung verwehrt ihnen die Möglichkeit, die Flüchtlingshilfe in ihr alltägliches Leben an ihrem Wohnort einzubauen.

 

Völlige Abschottung gegenüber Flüchtlingen bedeutet, dass alle Personen, die als Flüchtling in ein Land einreisen wollen, bereits an der Grenze ohne Verfahren zurückgewiesen bzw. am Erreichen der Grenze gehindert werden (vgl. Frage 1). Sofern dieser Staat die Genfer Flüchtlingskonvention mit ihren Zusatzdokumenten unterzeichnet hat, verstößt er mit einer solchen Politik gegen internationales Recht. Äußerer Ausdruck einer solchen Strategie wäre der Bau von Mauern und Zäunen in Verbindung mit Grenzsicherungsmaßnahmen wie wir sie aus DDR-Zeiten kennen. Im Falle der DDR dienten diese Befestigungen dazu, die eigenen Bürger einzusperren. In der Flüchtlingspolitik dienen sie dazu, die Flüchtlinge auszusperren.

 

Etwas differenzierter muss man rechtlich wohl den Bau der Mauern in der Türkei, Mazedonien und Ungarn sehen. Insoweit sie dazu dienen, den illegalen Grenzübertritt von Flüchtlingen zu verhindern, sind sie ein legitimes Mittel. In diesem Fall müsste es legale Grenzübergänge geben, an denen auch Flüchtlinge erscheinen dürften. In der Praxis lief es in den genannten Staaten aber wohl so, dass die Mauern den Flüchtlingen von vornherein die Möglichkeit zum Erreichen der Grenze bzw. zum legalen Grenzübertritt als Flüchtling nehmen sollten. Taucht ein Flüchtling trotzdem am Grenzübergang auf, wird er möglicherweise ohne Verfahren abgewiesen (vgl. Frage 1). Diese Praxis verstößt gegen Buchstaben und Geist der Genfer Flüchtlingskonvention.

 

Für die auf der Balkanroute geographisch nach den Mauern liegenden Staaten wird das Problem dadurch entschärft, dass zahlreiche Flüchtlinge gar nicht bis zu deren Grenze vordringen können. Durch den Türkei-Deal hat die EU angestrebt, dass sie sich auch nach dem Bau der genannten Mauern nicht völlig gegen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten abschottet. Die Umsetzung des Abkommens mit der Türkei verläuft jedoch äußerst schleppend und wird durch innenpolitische Entwicklungen in der Türkei  stark belastet. (Vgl. Fragen 2 und 3). Was der EU unvermindert bleibt, ist der unkontrollierte Flüchtlingsstrom über die Mittelmeerroute.

 

Wenn in Ungarn die für 2016 geplante Volksabstimmung ergibt, dass sich das Land vollständig gegen Flüchtlinge abschottet, so wäre dies nicht nur ein Verstoß gegen internationales Recht sondern auch -  in sozialethischer Perspektive - eine extreme Form von Sozioismus. Dabei geht es um das – zumindest mehrheitliche – Verhalten einer ganzen Gesellschaft, nur ihre eigenen Interessen zu verfolgen, auch wenn im Umfeld bzw. global eine Not herrscht, die dringender Hilfe bedarf. Eine sozioistische Gesellschaft koppelt sich keineswegs vollständig von der Umwelt ab, sondern betreibt im Stile von Geben und Nehmen Handel und andere Formen des Austauschs. Dabei hat sie jedoch immer den eigenen Vorteil als Bedingung, wie das ja bei Freihandel auch Theorie und Praxis ist: Beide Seiten haben Vorteile von dem Geschäft, sonst würden sie es nicht abschließen. Eine sozioistische Gesellschaft verweigert sich jedoch der einseitigen Hilfe für notleidende Staaten oder ausländische Bürger. Wenn sich alle Staaten so verhalten würden, gäbe es in der gegenwärtigen Welt nur noch Binnenflüchtlinge. Eine Grenzüberschreitung würde schon von den Anrainerstaaten verhindert, was auch nur durch Mauerbau wie in der Türkei möglich wäre.

 

Da es auch in sozioistischen Gesellschaften Minderheiten gibt, die Mitleid mit angekommenen Flüchtlingen hätten, würden diese Minoritäten durch Diktat oder Mehrheitsbeschluss daran gehindert, ihren Gefühlen im Inland Taten folgen zu lassen. Sie müssten ins Ausland gehen, um vor Ort zu helfen. Dies wäre aber nur möglich, wenn sie ihr normales Alltagsleben für die Zeit des Auslandsaufenthalts aufgeben würden, was das zu erbringende Opfer sehr erhöht. Manche Staaten sperren ihre Bürger ein und nehmen ihnen damit auch noch diese Möglichkeit, karitativ tätig zu werden.

  

Offenen Fragen

1. Welche Methoden genau verwenden die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Ungarn zur Abwehr von illegalen Flüchtlingen? Haben diese eine Möglichkeit, an einem legalen Grenzübergang zu erscheinen und wie werden sie dann behandelt 

2. Wie hat der Türkei-Deal seit April 2016 funktioniert?

3. Kann die Türkei nach dem Putschversuch 2016 und den folgenden Maßnahmen noch als sicheres Herkunftsland betrachtet werden?

 

 

 

 

Teil 3

Globalisierung - auch der Verantwortung

 

3.3. Soziospezifisch oder global einheitlich?

 

Ein abgestuftes Konzept globaler Flüchtlingspolitik

 

 

 

3.3.1. Das Konzept  im Überblick

 

 

 

Ziel der globalen Flüchtlingspolitik sollte es sein, Flucht so schnell wie möglich in geordnete Bahnen zu lenken, sodass sie die Biografie des  Flüchtlings minimal belastet und dem Herkunftsland so nachhaltig wie möglich dient. Dazu bedarf es einer finanziell und militärisch kompetenten UNO, die auf hohem Niveau Flüchtlingslager im Herkunftsland und/oder Anrainerstaaten zu schützen und auf hohem Niveau zu betreiben vermag, dort die Asylverfahren abschließt, bei Bedarf nach international verabredetem Schlüssel Asylanten – keine Flüchtlinge - weltweit verteilt, die dann im Aufnahmeland ihre Zeit optimal nutzen können, um so bald wie möglich gestärkt wieder in das Geschehen ihrer Heimat eingreifen zu können.

 

 

 

Bei unseren Modellüberlegungen zu Beginn dieses globalethischen Abschnitts wurde deutlich, dass eine Welt ohne Flüchtlinge zwar nicht prinzipiell aber auf absehbare Zeit utopisch ist. Dafür spricht der steigende Trend bei den meisten Fluchtursachen in den letzten Jahren, der sich auch in steigenden Flüchtlingszahlen niedergeschlagen hat. Dafür spricht weiterhin das Damoklesschwert einer drohenden Klimakatastrophe, von dem niemand genau weiß, wo, wie oft und wie stark es auf die Erde niedergehen wird. Es ist auch plausibel, dass Klimaprobleme manche schon bestehende Konflikte weiter verschärfen und neue hervorrufen werden, deren Dimensionen bisher Erlebtes sprengen könnten. Damit müsste klar sein, dass Flucht in größerem Maßstab ein Jahrhundertproblem ist, das eine globale Herausforderung darstellt. Ein globales Problem braucht eine global-solidarische Lösung. Alles andere ist Stückwerk und zementiert den gegenwärtigen Zustand mit Verzerrungen, Ungerechtigkeiten, Spannungen und kontraproduktiven Prozessen, die eine Verkürzung der Fluchtwege und ein humanes Niveau der Flüchtlingsversorgung verhindern.

 

Wenn wir mit der Grundeinstellung der Liebe das größtmögliche Wohl der gesamten Menschheit anstreben, so hängt dies  vom Wohl jedes einzelnen der mehr als 7 Milliarden Menschen ab. Die Tatsache, dass mehr als 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs sind, beeinträchtigt in aller erster Linie das Wohl dieser 60 Millionen. Aber es tangiert auch das Wohl der verlassenen Angehörigen und Freunde in den Herkunftsländern und die Lebensqualität der Helfer und  Gegner sowie der Terroropfer und Geschädigten in den Aufnahmeländern. Dies hat unsere Mikroanalyse im ersten Abschnitt dieses Buches gezeigt. Gleichzeitig werden teilweise dramatische soziale Prozesse sowohl in den Herkunfts- als auch in den Transit- und Aufnahmeländern ausgelöst, sodass neben dem Wohl von Individuen auch die Wohlfahrt ganzer Nationen betroffen ist, deren Minderung auf die globale Wohlfahrt durchschlägt.

 

Solange es Flüchtende gibt, stellen sie Jahr für Jahr eine erhebliche Minderung der Wohlfahrt der Menschheit dar. Neben Hunger, Armut und Unterdrückung ist dies der dritte große Abzugsposten in einer Welt mit hunderten Milliardären, tausenden Millionären und Millionen durchaus wohlhabenden Mittelständlern in zahlreichen Ländern. Die Frage muss sein, ob man diesen Abzugsposten, der Gegenstand dieses Buches ist, mittelfristig vermindern kann, nachdem wir zugestehen müssen, dass seine Beseitigung bestenfalls langfristig möglich ist und sogar beinahe utopisch erscheint.

 

Das in der These umrissene Konzept einer global-solidarischen Flüchtlingspolitik setzt an folgenden Punkten an: Verkürzung der Fluchtwege und Verfahrenszeiten, humane Flüchtlingsversorgung auf hohem Niveau mit global fairer Kostenverteilung, Forcierung von beruflicher Aus- und Weiterbildung und Rückführung ins Herkunftsland, sobald dessen Sicherheit gewährleistet ist. Fortschritte in diesen Bereichen würden die Zahl der Scheinflüchtlinge verringern, das Leid der verbleibenden echten Flüchtlinge lindern, die statt mehrerer tausend bestenfalls mehrere hundert Kilometer unter schwierigen Bedingungen zurücklegen müssten. Aber auch die vielfältigen Probleme und Verwerfungen in den Transit- und Aufnahmeländern würden abgemildert, was deren nationale Wohlfahrt weniger belasten würde. Schließlich lege ich großen Wert darauf, das langfristige Wohl des zum Zeitpunkt der Flucht unsicheren Herkunftslandes im Blick zu behalten und dessen Ausblutung zu verhindern. Das die globale Wohlfahrt belastende Phänomen Flucht kann zu sehr effektiver Entwicklungshilfe umgemünzt werden, wenn sich die Flüchtenden ihre Heimatliebe bewahren und die Aufnahmeländer auf die Ausbeutung der Herkunftsländer verzichten, indem sie aus Asylanten Bürger machen, die Bevölkerungspyramide, Rentensystem und Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes entlasten sollen.

 

Es muss von vornherein klar sein, dass eine globale Flüchtlingspolitik Symptomtherapie und somit kurz- bis mittelfristig angelegt ist. Eine langfristige Ursachenbekämpfung muss allemal parallel laufen und folgt ganz anderen Prinzipien, sollte aber mit der Flüchtlingspolitik ebenso abgestimmt sein, wie ein Arzt bei seinen Maßnahmen Symptom- und Ursachenbekämpfung in Einklang miteinander bringt. Eine erfolgreiche Symptomtherapie kann die langfristige Ursachenbekämpfung entscheidend unterstützen. Dies ist ein weiteres Anliegen des vorliegenden Konzeptes, das auf eine langfristige Stabilisierung des Herkunftslandes und damit auf eine Beseitigung von Fluchtursachen hinwirken kann.

 

Nun könnte man hoffen, dass diese oder ähnliche Überlegungen jedermann einleuchten, den Flüchtlingen wie den Politikern. Die Folge wäre, dass alle Staaten aus freien Stücken an einem Strang ziehen, Asylanten im eigenen Land qualifizieren und dann – ohne auf deren Widerstand zu stoßen – nach überwundener Krise in ihr Herkunftsland entlassen. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass diese Hoffnung unbegründet ist. Soll man die gegenwärtige Mischlösung beibehalten oder gar zu einem größeren Laissez-faire übergehen? Die Mischlösung mit einer schwachen UNO, einer GFK mit schwacher Performance und einem sich austobenden Nationalismus der Staaten erleben wir seit Jahrzehnten mit höchst unbefriedigendem Ergebnis. Auch unsere Modellüberlegungen zu mehr Laissez-faire, mehr freiem Markt der Fluchtziele, mehr willkürlichen Grenzregimes stimmen eher skeptisch. Ich plädiere deshalb für obiges relativ striktes UN-Règlement als Fernziel, das in einzelnen Stufen realisiert werden könnte. Wichtig ist zunächst vor allem, dass die Richtung stimmt. Die Details meiner Vorschläge nebst ihrer Begründung sind Gegenstand der folgenden Kapitel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



[1] Inzwischen hat sie sich von diesem Satz weitgehend distanziert, ohne den Kern seiner Problematik, wie sie im 1. Abschnitt dieses Buches dargelegt wurde, zu erkennen bzw. offen zu legen. (Vgl. Freie Presse 20.09.2016, S. 1 und 4)

[2] Ursprüngliche Schätzungen lagen bei ca. 1,1 Mio. Wegen der Doppelzählungen geht man im Herbst 2016 eher von ca. 800.000 aus.

[3] Böhm, Andrea (2015: Was hält ein Land aus? Das Beispiel Libanon, in: DIE ZEIT 23.4.2015

[4] Boris Palmer begründet die im Titel seines Buches enthaltene These nicht wirklich. Zweifelsfrei wäre die Formulierung: „Wir wollen nicht allen helfen.“ (Vgl. Palmer, Boris (2017): Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit. Siedler Verlag München.

[5]Donald Trump hat als Präsidentschaftskandidat im amerikanischen Wahlkampf 2016 eine solche Forderung erhoben. Vgl. auch  Wilders, Geert/Koelbl, Susanne (2015): Ich will die Grenzen schließen, Interview von Susanne Koelbl mit Geert Wilders, dem Vorsitzenden von „Partei für die Freiheit“, in: Der Spiegel 27/2016, S. 20 -21

 

[6] Vgl. Weber, Max (1919/1992). Politik als Beruf. Vortrag. Reclam, Stuttgart. Der Dualismus von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, den ich oben versuchsweise für die Flüchtlingspolitik anwende, erscheint mir logisch in mancher Hinsicht unbefriedigend.. Ich würde nicht so weit gehen wie Grünewald, der ihn als widersinnig bezeichnet hat (vgl. Grünewald (2010)), sehe aber durchaus ein Spannungsverhältnis (vgl. Vertraeten 1995). Ich hoffe an anderer Stelle nachweisen zu können, dass das hier angewandte kombinierte Liebes-Nutzen geeignet ist, die Probleme zu überwinden (vgl. Frage 3).

 

[7] Erst nach der von der CDU dramatisch verlorenen Wahl in Berlin am 18. September 2016 hat sich Angela Merkel teilweise und indirekt von ihrer gesinnungsethisch basierten Politik distanziert, indem sie den Kontrollverlust im Herbst 2015 wie folgt kommentiert hat: „Die Wiederholung dieser Situation will niemand auch ich nicht.“ (Freie Presse 26.9.2016 S. 1).Sie gibt aber nicht zu, dass genau sie es war, die mit einer ganzen Reihe von Entscheidungen, beginnend am 4. September 2015, den Kontrollverlust herbeigeführt und unnötig verlängert hat. Zwar kam es in 2016 zu begrenzenden Entscheidungen wie dem Türkei-Deal, aber letztlich verdankt sie es den Mauern und Zäunen, die die auf der Balkanroute vorgelagerten Staaten gebaut haben, dass Kontrolle wieder eingetreten ist. Die fatalen Folgen der gesinnungsethischen Barmherzigkeitsdoktrin konnten nur durch gravierende Verstöße gegen dieselbe gemildert werden.